Künstliche Intelligenz in der Nutztierhaltung sinnvoll einsetzen – Tierwohl steigern, Prävention stärken, Betriebe entlasten

I. Ausgangslage 

Die Nutztierhaltung in Deutschland - insbesondere die Schweine- und Geflügelhaltung – befindet sich in einem tiefgreifenden Strukturwandel. Die Zahl der Tierhaltungsbetriebe sinkt seit Jahren, gleichzeitig steigen die gesellschaftlichen, rechtlichen und wirtschaftlichen Anforderungen an Tierwohl, Umwelt- und Ressourcenschutz. Diese Anforderungen erfordern nicht nur organisatorische und bauliche Anpassungen, sondern auch Investitionen in moderne Technik. Für viele Betriebe – insbesondere im kleinen und mittelständischen Bereich – ist dieser Spagat zwischen gesellschaftlicher Erwartung, wirtschaftlicher Tragfähigkeit und praktischer Umsetzung kaum noch zu leisten.

Gleichzeitig eröffnen moderne Technologien wie der Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI) neue Perspektiven. KI-Systeme ermöglichen die automatisierte und kontinuierliche Erkennung von (Tier-)Verhalten, Gesundheitszuständen und Umweltveränderungen in Echtzeit. Sie entlasten das Stallpersonal bei der täglichen Tierkontrolle, verbessern die Dokumentation, erhöhen die Reaktionsgeschwindigkeit bei tierschutzrelevanten Auffälligkeiten und schaffen neue Freiräume für eine vorausschauende und tiergerechte Haltung. Damit bieten sie nicht nur Chancen für das Tierwohl, sondern auch für die wirtschaftliche Effizienz und den Erhalt der Tierhaltung im ländlichen Raum.

Ein besonders häufiges und gravierendes Problem in der Schweinehaltung ist das sogenannte Schwanzbeißen. Es entsteht durch ein komplexes Zusammenspiel von Stressfaktoren wie Überbelegung, Langeweile, unzureichender Beschäftigung oder ungünstigen Klimabedingungen im Stall. Ist das Verhalten einmal aufgetreten, hat dies häufig weitreichende Folgen für die gesamte Gruppe: Betroffene Tiere müssen behandelt oder aussortiert werden, die Leistung sinkt deutlich, und eine eindeutige Identifikation des verursachenden Tieres gelingt oft nicht. Die Rückmeldungen aus der Praxis zeigen, dass Landwirtinnen und Landwirte der nachträglichen Erkennung eines sogenannten „Tätertiers“ häufig kritisch gegenüberstehen – insbesondere wenn das entsprechende Tier nicht konkret identifiziert werden kann und die Schäden bereits entstanden sind.

Entscheidend für die Praxis ist deshalb die Prävention – also die rechtzeitige Erkennung ungünstiger Entwicklungen im Stall, bevor es zu Verletzungen kommt. Projekte wie „SmartPigHome“ setzen genau hier an: Mithilfe von Sensorik, Bildverarbeitung und KI-gestützter Auswertung werden Stallklima, Tierverhalten und Aktivität in Echtzeit analysiert. Durch gezielte Reizangebote und Beschäftigung können unerwünschte Verhaltensweisen wie Schwanzbeißen frühzeitig unterbunden werden. In der aktuellen Förderkulisse der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) sind mehrere solcher Projekte im Bereich der Schwanzbeiß-Prophylaxe angesiedelt – ein Hinweis auf das gestiegene Interesse an praxisnaher Präventionstechnologie.

Auch in der Geflügelhaltung zeigen sich bereits heute konkrete Erfolge durch den Einsatz von KI-Systemen. Ein Start-up aus Niedersachsen bietet beispielsweise eine intelligente Überwachungslösung an, die auf kamerabasierter Verhaltensanalyse beruht. Die KI erkennt anhand der Bewegungsmuster, Gruppendynamiken und Stallparameter, ob Tiere Stress oder Krankheitsanzeichen zeigen. Auf dieser Grundlage werden gezielte Handlungsempfehlungen in Echtzeit gegeben, die vom Landwirt direkt umgesetzt werden können. Die positiven Effekte sind erheblich: In der Geflügelmast lassen sich durch frühzeitige Interventionen Antibiotikaeinsätze um bis zu 80 Prozent reduzieren, Tierverluste um 60 Prozent senken, Verwürfe halbieren sowie Futterverwertung und Energieeffizienz signifikant verbessern – bei gleichzeitiger Arbeitsentlastung und besserer Datenlage. Damit wird Tierwohl gestärkt und wirtschaftlicher Erfolg messbar verbessert.

Allerdings ist die Umsetzung solcher Technologien an eine entscheidende Voraussetzung gebunden: Eine stabile digitale Infrastruktur im Stall. In der Praxis zeigt sich, dass es gerade bei kleineren und mittleren Tierhaltungsbetrieben oft an dieser Grundvoraussetzung fehlt. Ohne eine leistungsfähige Internetverbindung – sei es per Breitband oder Satellit – können weder Kamerasysteme noch cloudbasierte Auswertungsalgorithmen zuverlässig arbeiten. Besonders kleine Betriebe in Alleinlage oder in Randregionen haben mit hohen Erschließungskosten zu kämpfen, um eine ausreichende digitale Anbindung zu gewährleisten. Diese zusätzlichen Belastungen gefährden die Anschlussfähigkeit an moderne Technologien.

Nordrhein-Westfalen sollte daher gezielt Rahmenbedingungen schaffen, um den Einsatz digitaler Tierwohltechnologien zu fördern – nicht nur durch Projektförderung und Anwendungsschulungen, sondern auch durch die flächendeckende Unterstützung einer funktionsfähigen digitalen Infrastruktur im ländlichen Raum. Nur so kann KI in der Tierhaltung ihr Potenzial als Schlüsseltechnologie für Tierwohl, Effizienz und Zukunftsfähigkeit wirklich entfalten.

Beschlussfassung

Der Landtag stellt fest:

  • Die Nutztierhaltung in Nordrhein-Westfalen steht unter erheblichen ökonomischen, gesellschaftlichen und tierschutzrechtlichen Herausforderungen, die nur mit innovativen, technologieoffenen und praxisnahen Lösungen bewältigt werden können;
     
  • der Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Nutztierhaltung bietet ein hohes Potenzial, um Tierwohl, Ressourceneffizienz und Arbeitsentlastung auf den Betrieben gleichzeitig zu verbessern;
  • bestehende KI-Anwendungen, wie z. B. in der Geflügelhaltung durch das System VetVise oder in der Schweinehaltung im Projekt „SmartPigHome“, zeigen eindrucksvoll, wie Frühwarnsysteme und automatisierte Maßnahmen zur Prävention von Gesundheitsproblemen und Verhaltensauffälligkeiten beitragen können;
  • insbesondere in der Schweinehaltung ist die präventive Vermeidung von Schwanzbeißen über sensorisch gestützte Stallüberwachung und KI-gestützte Beschäftigungssysteme deutlich praxisrelevanter als die rückwirkende Identifikation von Einzeltieren;
  • Nordrhein-Westfalen verfügt im Bereich der digitalen Nutztierhaltung über ein großes Potenzial, das bislang jedoch unzureichend koordiniert und in die Breite getragen wird;
  • insbesondere kleinere und mittlere Tierhaltungsbetriebe durch gezielte Unterstützung bei Investitionen, Anwendung, technischer Ausstattung und Schulung gestärkt werden müssen, um die Chancen der Digitalisierung nutzen und zukunftsfähig wirtschaften zu können;
  • eine entscheidende Voraussetzung für den Einsatz KI-gestützter Systeme in der Nutztierhaltung die stabile Internetanbindung im Stall ist – diese ist in der Realität jedoch oft nicht gegeben, insbesondere bei Betrieben in Randlagen oder Alleinlagen, wo die Erschließungskosten durch Breitband oder Satellitenverbindungen hoch sind und die Betriebe die digitale Infrastruktur aus eigenen Mitteln häufig nicht stemmen können;
  • ohne gezielte Fördermaßnahmen zur Verbesserung der digitalen Infrastruktur in ländlichen Räumen drohen gerade kleinere Tierhaltungsbetriebe den Anschluss an moderne Tierhaltungstechnologien und damit an Tierwohl- und Effizienzstandards zu verlieren;
  • die Digitalisierung der Tierhaltung auch zur Entbürokratisierung beitragen und damit Freiräume für Eigenverantwortung, Tierbeobachtung und betriebliche Weiterentwicklung schaffen kann.


Der Landtag beauftragt die Landesregierung,
 

  • digitales Tierwohlmonitoring als zusätzlichen Faktor in bestehenden Tierwohlprogrammen zu berücksichtigen, sodass KI-basierte Dokumentation und Eigenkontrolle berücksichtigt und honoriert werden.
  • Test- und Demonstrationsbetriebe in NRW gezielt zu fördern, die KI-Systeme zur Überwachung von Verhaltensauffälligkeiten, Gesundheitszuständen und Umweltparametern erproben, z. B. durch Partnerschaften mit Hochschulen und Forschungseinrichtungen.
  • eine Beratungs- und Informationsplattform zum Thema „KI in der Nutztierhaltung“ zu schaffen, die Landwirtinnen und Landwirten praxisnahe Informationen zu Technik, Datenschutz, Finanzierung und rechtlichen Fragen bietet.
  • gezielt Forschungs- und Entwicklungsprojekte zur KI-gestützten Prävention von Verhaltensstörungen wie Schwanzbeißen zu unterstützen, insbesondere in Zusammenarbeit mit bestehenden Modellprojekten und Hochschulstandorten.
  • die notwendigen rechtlichen Voraussetzungen zu schaffen, damit digitale Tierüberwachungssysteme als eigenständiger Bestandteil der betrieblichen Tierwohlstrategie anerkannt und bei entsprechenden Nachweisen auch im Rahmen von Tierwohlprogrammen (z. B. Initiative Tierwohl) berücksichtigt werden.
  • Pilotvorhaben zu fördern, in denen der Einsatz von KI-Technologie zur Reduktion invasiver Maßnahmen – wie dem Schwanzkupieren – erprobt wird, mit dem Ziel, praxistaugliche Alternativen zu etablieren und Fördermöglichkeiten für die Einführung entsprechender Systeme zu schaffen.
  • den Einsatz von KI-Systemen in der Tierhaltung in bestehenden Rechtsvorschriften und Förderprogrammen zu berücksichtigen, z. B. durch Bürokratieerleichterungen bei digital dokumentierten Nachweisen.
  • eine interdisziplinäre Projektgruppe einzusetzen, die gemeinsam mit Wissenschaft, Landwirtschaft und Technikentwicklern Kriterien für praxistaugliche, datenschutzsichere und tierschutzgerechte KI-Systeme in der Tierhaltung erarbeitet.
  • dafür Sorge zu tragen, dass kleine und mittlere Tierhaltungsbetriebe in ländlichen oder randlagigen Regionen gezielt Unterstützung beim Zugang zu stabiler digitaler Infrastruktur erhalten, insbesondere im Anschluss an Breitband- oder satellitengestützte Internetlösungen.
  • gemeinsam mit den Kommunen und regionalen Netzbetreibern eine landesweite Bestandsaufnahme der digitalen Erschließung tierhaltender Betriebe zu initiieren, um Versorgungslücken gezielt zu identifizieren und zu schließen.