Stärkung der Jugendämter in Nordrhein-Westfalen – Maßnahmen gegen Überlastung und für besseren Kinderschutz

I. Ausgangslage

Die Jugendämter in Nordrhein-Westfalen stehen weiterhin vor gravierenden strukturellen Problemen. Die aktuelle Berichterstattung des WDR zeigt, dass viele Jugendämter unter erheblichem Personalmangel leiden und mit einer zunehmenden Arbeitsbelastung konfrontiert sind. Dies hat weitreichende Folgen für den Kinderschutz und die allgemeine soziale Betreuung von Familien.

Die Recherchen des WDR haben durch die TV-Dokumentation „Jugendämter in Not: Kinder in Gefahr?“ (ARD Story) eindrücklich die katastrophale Situation der Jugendamtsmitarbeiter aufgezeigt. In der Befragung des WDR aus dem Sommer 2024, die der Berichterstattung zu Grunde liegt, erklärten die Jugendämter, dass es im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) häufig oder sogar dauerhaft zu Überlastungen komme.

Im Jahr 2023 haben Jugendämter in Nordrhein-Westfalen rund 56.000 Verfahren zur Einschätzung der Kindeswohlgefährdung durchgeführt und damit der Höchststand von 2022 erneut bestätigt. Insgesamt wurden 17.000 Inobhutnahmen vollzogen – das entspricht durchschnittlich 48 Kindern und Jugendlichen pro Tag. Dies stellt einen dramatischen Anstieg von 40 Prozent innerhalb der letzten zwei Jahre dar. Die Befragung unter den Jugendämtern, an der 60 Prozent der Jugendämter in NRW teilnahmen, verdeutlicht zudem die gravierenden Engpässe in der Unterbringung: 82 Prozent der befragten Jugendämter gaben an, dass es zu wenig Unterbringungsplätze gibt, insbesondere in Wohnheimen und Pflegefamilien. Aufgrund dieses Mangels mussten 50 Prozent der Jugendämter Kinder und Jugendliche länger als notwendig in ihren Herkunftsfamilien belassen, was in vielen Fällen eine Gefährdung des Kindeswohls darstellt. Zudem berichteten 35 Prozent der Jugendämter, dass sie zeitweise nur noch die schwersten Fälle bearbeiten konnten, während andere Kinder und Jugendliche nicht die dringend benötigte Hilfe erhielten. Diese alarmierende Situation macht deutlich, dass die Landesregierung dringend handeln muss.

Besonders dramatisch ist die Lage in Ballungsräumen wie dem Ruhrgebiet oder in stark wachsenden Kommunen, in denen die Fallzahlen pro Sozialarbeiterin bzw. pro Sozialarbeiter teilweise weit über den empfohlenen Richtwerten liegen. So schildert eine ehemalige ASD-Mitarbeiterin, dass sie in der Spitze bis zu 137 Fälle betreute. Solche Beispiele illustrieren, warum 42 Prozent der Jugendämter von einer Überlastung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Allgemeinen Sozialen Dienst sprechen. Eine angemessene Betreuung von gefährdeten Kindern und Jugendlichen kann unter diesen Umständen oft nicht mehr gewährleistet werden.

Der Fachkräftemangel ist eine der größten Herausforderungen für die Jugendämter. Viele Stellen im ASD können nicht besetzt werden, was dazu führt, dass sich bestehende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit einer übermäßigen Zahl an Fällen auseinandersetzen müssen. Dies führt nicht nur zu einer sinkenden Arbeitsqualität, sondern auch zu einem hohen Krankenstand und einer wachsenden Frustration unter den Fachkräften. Infolgedessen gibt es eine hohe Fluktuation in den Jugendämtern, wodurch wertvolle Expertise verloren geht.

Neben dem Fachkräftemangel ist die Finanzierung der Jugendhilfe ein zentrales Problem. Viele Jugendämter klagen über unzureichende finanzielle Mittel, die sowohl die Personalaufstockung als auch die Umsetzung präventiver Maßnahmen erschweren. Dabei ist gerade die Prävention ein entscheidender Faktor, um Eskalationen in Familien zu verhindern und den Schutz von Kindern und Jugendlichen nachhaltig zu gewährleisten.

Die steigenden Anforderungen an die Jugendhilfe erschweren die Situation zusätzlich. Immer mehr Familien benötigen Unterstützung, sei es aufgrund von wirtschaftlichen Problemen, psychischen Erkrankungen der Eltern oder Konfliktsituationen innerhalb der Familie. Die Komplexität der Fälle nimmt zu, was die Arbeit der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter weiter erschwert. Gleichzeitig steigen die Erwartungen an die Jugendämter, schnell und effizient auf Verdachtsfälle von Kindeswohlgefährdung zu reagieren.

Das Landeskinderschutzgesetz schafft einen sinnvollen Rahmen, aber es braucht eine pflichtbewusste gemeinsame Aktion aller Akteure, um die akute Lage signifikant zu verbessern. Mit der Qualitätsentwicklung und der Netzwerkkoordination, also der Koordination zwischen den Jugendämtern und anderen Akteuren wie Schulen, Kindertagesstätten, Polizei und Gesundheitsämtern, wurden wichtige Schritte unternommen. Diese gilt es zu stärken, um strukturierte Abläufe und klare Kommunikationswege, die wertvolle Zeit bei Fällen sparen. Auf der anderen Seite braucht es, um die gravierenden strukturellen Defizite in den Jugendämtern zu beheben, dringend einheitliche Standards und effizientere Prozesse. Eine zentrale Rechtsaufsicht auf Landesebene könnte dabei helfen, landesweit verbindliche Vorgaben durchzusetzen und die Einhaltung gesetzlicher Bestimmungen zu gewährleisten. Zudem fehlt es an einer transparenten Übersicht über verfügbare Plätze in der Jugendhilfe. Eine landesweite digitale Plattform, die in Zusammenarbeit mit den Jugendämtern entwickelt wird, könnte freie Plätze sichtbar machen und eine direkte Platzanfrage ermöglichen, um schnelle und bedarfsgerechte Unterbringungen sicherzustellen. Angebote wie freiplatzmeldungen.de können hierbei Orientierung geben. Gleichzeitig müssen die Verwaltungsprozesse in den Jugendämtern entschlackt werden, damit Fachkräfte sich stärker auf ihre Kernaufgabe konzentrieren können: den Schutz und die Betreuung von Kindern und Jugendlichen. Die Digitalisierung in den Jugendämtern ist nicht flächendeckend vorangeschritten, was ebenfalls zu Verzögerungen in der Bearbeitung von Fällen führen kann.

Bei der komplexen und herausfordernden Problemlage, die sich die Jugendämter in Nordrhein-Westfalen ausgesetzt sehen, stellt es sich als unzureichend dar, wenn auf die Zuständigkeit der kommunalen Jugendhilfeplanung verwiesen wird.

Es besteht dringender Handlungsbedarf, um die strukturellen Defizite der Jugendämter zu beheben. Nur mit ausreichend Personal, besseren finanziellen Rahmenbedingungen und einer effizienten Organisation kann ein belastbares Arbeitsumfeld in den Jugendämtern und der Kinderschutz in Nordrhein-Westfalen nachhaltig gesichert werden.

II. Beschlussfassung

Der Landtag stellt fest:

  • Die Jugendämter in Nordrhein-Westfalen sind systemrelevant für den Schutz von Kindern und Jugendlichen.
  • Aktuelle Überlastungen und Personalmängel gefährden die Qualität der Arbeit der Allgemeinen Sozialen Dienste und damit des Kinderschutzes in den Kommunen von Nordrhein-Westfalen.
  • Es bedarf klarer Standards und ausreichender Ressourcen, um die Handlungsfähigkeit der Jugendämter sicherzustellen.

Der Landtag beauftragt die Landesregierung,

  • eine zentrale Rechtsaufsicht für die Jugendämter auf Landesebene zu etablieren, um einheitliche Standards zu gewährleisten und die Einhaltung gesetzlicher Vorgaben zu überwachen.
  • das System zur externen Evaluation der Jugendämter im Sinne der Qualitätsentwicklung durch das Landeskinderschutzgesetz weiterzuentwickeln.
  • zur Verbesserung der Personalausstattung ein landesweites Programm zur Personalgewinnung und -bindung im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) zu entwickeln.

Mit Blick auf Berufseinsteiger ist ein gutes Onboarding und die Etablierung einer qualifizierten Berufseinmündungsphase sicherzustellen. In diesem Zusammenhang sollte ein landesweites Trainee-Programm für Berufseinsteigerinnen und Berufseinsteiger im ASD entwickelt werden, das auch auf andere akademische und nicht-akademische Abschlüsse für die Arbeit in der Jugendhilfe vorbereitet.

  • attraktivere Arbeitsbedingungen in den Jugendämtern zu ermöglichen, um die berufliche Tätigkeit in einem Jugendamt langfristig attraktiver zu gestalten.

Entsprechend mit den Kommunen Maßnahmen zur betrieblichen Gesundheitsförderung zu entwickeln sowie die Begleitung von Teamprozessen innerhalb des ASD durch Supervision zu gewährleisten.

  • die Personalführung in den Jugendämtern durch Förderung von Qualifizierung und professionelle Begleitung zu stärken.
  • regelmäßige Fortbildungsprogramme für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendämter im Bereich Kinderschutz und Krisenintervention zu fördern.
  • gemeinsam mit den Kommunen eine verbindliche Obergrenze für die Anzahl der Fälle pro Mitarbeiterin und Mitarbeiter im ASD festzulegen, um eine qualitativ hochwertige Betreuung sicherzustellen.
  • die Möglichkeit zur Schaffung von Jugendämterverbünden zu prüfen, um sich den aktuellen Herausforderungen zu stellen.
  • die Anzahl der Plätze in Wohnheimen und Pflegefamilien bedarfsgerecht zu erhöhen, indem gezielte Förderprogramme zur Schaffung zusätzlicher Kapazitäten entwickelt und finanzielle Anreize für Pflegefamilien ausgebaut werden.
  • eine landesweite digitale Plattform in Zusammenarbeit mit den Jugendämtern in Nordrhein-Westfalen aufzusetzen, die freie Plätze in der Jugendhilfe transparent darstellt und eine direkte Platzanfrage über das Portal ermöglicht.
  • Kinderschutzbedarfsplänen gemeinsam mit den Kommunen in Nordrhein-Westfalen zu erstellen. Diese sollen eine transparente und systematische Festlegung darstellen, wie eine Kommune ihren Aufgaben im Kinderschutz (Risiken, Maßnahmen, Investitionen) nachkommen will.
  • die Verwaltungsprozesse in den Jugendämtern zu entschlacken, um den Fachkräften mehr Zeit für die direkte Arbeit mit Familien und Kindern zu ermöglichen.

Hierbei sollten standardisierte Festlegungen insbesondere bei Dokumentations- und Kontrollverfahren, wie bei der Überprüfung von Inobhutnahmen, umgesetzt werden. So würde eine bessere Vergleichbarkeit und im Fall von Fallübergaben eine bessere Fallübernahme ermöglicht.

  • die Netzwerkkoordination nach dem Landeskinderschutzgesetz zwischen Jugendämtern, Schulen, Polizei und Gesundheitsämtern zu intensivieren, um einen ganzheitlichen Ansatz im Kinderschutz zu gewährleisten.
  • die Förderung der Angebote der Familienbildung und Familienhilfe sicherzustellen.