Gastbeitrag Höne in der WELT: „Ein träges Land verspielt seinen Wohlstand“

Deutschland erscheint heute satt, antriebslos und reformmüde. Mit dieser selbstverordneten Bräsigkeit riskieren wir unseren aufgebauten Wohlstand, den wir jeden Tag mehr verbrauchen. Wir setzen damit längst unsere Zukunfts- und Anschlussfähigkeit aufs Spiel. Es ist Zeit, aus unliebsamen Erkenntnissen endlich Taten werden zu lassen. Es ist Zeit für Mut und die Weitsicht für eine grundlegende Erneuerung, bevor wir erneut sehenden Auges zum „kranken Mann Europas” werden.

Henning Höne

Die deutsche Politik hat sich angewöhnt, Probleme nicht mehr zu lösen, sondern diese mit Geld zuzuschütten. „Bazooka“, „Wumms“, „Doppel-Wumms" sind die Chiffren jener verfehlten Politik. Egal, bei welcher Herausforderung der letzten Jahre, war das Vorgehen stets gleich: Mit staatlichen Hilfsprogrammen, Gas- und Strompreisbremsen, Energiepreispauschalen, Tankrabatten oder steuerfreien Inflationshilfen hat die öffentliche Hand strukturelle Reformen verweigert und gleichzeitig die universelle Anspruchshaltung an den allzeit zahlungskräftigen und spendablen Staat genährt.

Gleichzeitig erreicht das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Handlungsfähigkeit des Staates einen neuen Tiefstand. In einer Umfrage für den Deutschen Beamtenbund hielten nur noch 27 Prozent der Befragten den Staat für fähig, seine Aufgaben zu erfüllen. [1] Anspruch versus Wirklichkeit: Wie passt das zusammen?

Deutschland befindet sich längst in einer Abwärtsspirale. Was 2014 die Einführung der Rente mit 63 war, ist nun die Debatte über eine 4-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich: Ausdruck einer gefährlichen Realitätsverweigerung. Deutschland ist der OECD-Staat, in dem im Stundenvergleich am wenigsten gearbeitet wird. [2] Um den Wohlstand zu halten müssen wir wieder deutlich mehr arbeiten, nicht weniger – auch wenn das nicht populär ist. Dies gilt insbesondere in Zeiten eines grassierenden Fachkräftemangels.

Gleichzeitig erleben wir Höchstwerte bei den Steuereinnahmen. Viel zu oft landen diese Steuer-Milliarden in kruden Subventionen oder Förderprogrammen, die unsere soziale Marktwirtschaft endgültig ad absurdum führen. So gelingt beispielsweise die Neuansiedelung von Unternehmen im Rahmen der heutigen Wirtschaftspolitik scheinbar nur noch dann, wenn schlechte Standortbedingungen mit gigantischen Subventionsbeträgen [3] kompensiert werden. Und zu welchem Preis?

Wir verlieren heute nicht mehr nur relativ an Wohlstand, indem andere Teile der Welt deutlich schneller wachsen als wir. Schlimmer noch: Jüngste Konjunkturaussichten belegen sogar einen wirtschaftlichen Abschwung. [4] Aus Kostengründen verlassen so viele deutsche Firmen den Heimatmarkt wie seit 15 Jahren nicht mehr. [5] Dies zeigt deutlich: Die bisherige wirtschaftspolitische Strategie besteht den Realitätscheck nicht. Ganz im Gegenteil.

Probleme dürfen nicht nur in teuer und hart erarbeitetem Steuergeld ertränkt und unsere Wettbewerbsfähigkeit kann nicht weiter „herbeisubventioniert” werden. Wir können nur durch die besten Rahmenbedingungen als Standort wieder langfristig attraktiv werden. Nur mit mutigen und unbequemen Reformen wird uns gemeinsam eine marktwirtschaftliche Erneuerung gelingen.

Wir brauchen ein neues Politikverständnis. Probleme werden langfristig nicht durch Förderprogramme gelöst. Wir müssen durch Eigenverantwortung und Leistungsbereitschaft anstelle von plumper Staatsgläubigkeit zum Kern der sozialen Marktwirtschaft zurückkehren. Um im weltweiten Wettbewerb zu bestehen, müssen wir mehr tun, schneller und besser sein als andere. Insbesondere die Politik muss diesen Anspruch vorleben!

Wir müssen die Wirtschaftspolitik neu denken und die Vereinfachung des Steuersystems muss wieder im Mittelpunkt stehen. Der Verwaltungsaufwand wird beispielsweise gesenkt, indem wir das Steuersystem durch Überführung von steuerlichen Ausnahmen in Pauschalregelungen drastisch vereinfachen. Steuerliche Belastungen für Unternehmen müssen gesenkt werden, um ihnen Spielraum für Investitionen zu geben. Die Stromsteuer muss auf das europäische Mindestmaß sinken.

Wir brauchen ausnahmslos einen einheitlichen Mehrwertsteuersatz. Dass nach wie vor manche Lebensmittel und Produktgruppen mit 19 Prozent, andere jedoch nur mit sieben Prozent besteuert werden, führt unweigerlich zu hausgemachten Verzerrungen, Willkür und Intransparenz. Eine strikte Vereinheitlichung reduziert daher nicht nur Marktverzerrungen und bürokratische Belastungen für Unternehmen sowie die Steuerverwaltung, sie fördert vielmehr auch den Wettbewerb.

Wir brauchen eine neue Verwaltungspraxis mit flächendeckend gesetzlichen Fristen für die Bearbeitung von Anträgen aller Art. Nach Ablauf der Frist gilt der Antrag, egal ob von Bürgern oder Unternehmen, als genehmigt. Schnellere Genehmigungen gibt es nicht mit mehr Personal in den Verwaltungen, sondern mit weniger Genehmigungspflichten. Der dringend notwendige Genehmigungs-Turbo muss endlich gezündet werden.

Wir müssen den Föderalismus neu gestalten. Mit einer Fusion der Stadtstaaten und des Saarlands können Verwaltungskosten gesenkt und zugleich der Bundesrat reformiert werden. Dabei könnte der Bundesrat wie in Österreich zu einem Spiegelbild der Landesparlamente aufgewertet werden. Zusätzlich ist eine Reduzierung der gemeinsamen Zuständigkeiten erforderlich, die nur zu langwierigen Debatten und Formelkompromissen führen. Schluss damit, einen untragbaren Status Quo zu erhalten, nur weil der Mut zur grundlegenden Neuordnung fehlt.

Wir brauchen auch eine Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Kommunen, Ländern und dem Bund die eine klare und trennscharfe Aufgabenverteilung nach dem Grundsatz „Das Geld folgt den Aufgaben“ gewährleistet. Sämtliche Förderprogramme zwischen staatlichen Ebenen werden in diesem Zusammenhang abgeschafft.

Es bedarf einer neuen Europapolitik in der EU-Netto-Zahler künftig keine Mittel mehr aus europäischen Förderprogrammen erhalten. Das bedeutet ein Ende von Töpfen wie EFRE, ESF etc., die kaum noch jemand wirklich durchblickt. Im Gegenzug würden die Beiträge der Zahler-Länder erheblich gesenkt.

Wir brauchen eine neue Klimapolitik, in der sich das Ausstiegsdatum für Kohle nicht an naiven, fixen Jahreszahlen festmacht, sondern am tatsächlichen Ausbauerfolg von Erneuerbaren Energien. Wir müssen Kernenergie so lange wie nötig nutzen, das Pipeline-Netz für Wasserstoff ausbauen, die Biogasnutzung ausweiten, die Speicherung von Kohlendioxid im Untergrund ermöglichen und Schiefergas als potenzielle Energiequelle berücksichtigen. Ein größeres Energieangebot führt zu Unabhängigkeit, Wettbewerbsfähigkeit und sinkenden Preisen.

Wir brauchen eine neue Flüchtlings- und Migrationspolitik mit klaren Regeln. Fehlende Ordnung und Steuerung nagen an der Akzeptanz des Rechtsstaats. Wird eine faire europäische Verteilung der Flüchtlinge (nach Einwohnern und Wirtschaftskraft) nicht unverzüglich umgesetzt, sollte Deutschland Zahlungen an die EU zurückhalten. Innerhalb Deutschlands brauchen wir zentrale Aufnahmeeinrichtungen, in denen die Antragsteller bis zum rechtskräftigen Entscheid über einen Asylantrag verbleiben.

Ein neues Sozialsystem muss treffsicher sein. Dazu werden Sozialleistungen künftig von einer einzigen zentralen Stelle erbracht. Dies reduziert den Verwaltungsaufwand, entlastet den Haushalt und schafft Transparenz für die Leistungsbezieher. Die Rentenpolitik muss an die demografische Entwicklung angepasst und das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung gekoppelt werden. Die Rente mit 63, die mittlerweile drei Milliarden Euro pro Monat kostet, können wir uns nicht leisten und muss unverzüglich rückabgewickelt werden.

Die Agenda 2010 war die letzte wirklich mutige Reform im Land. Sie hat vielen Menschen einiges abverlangt, war aber gleichzeitig der entscheidende Treiber für den wachsenden Wohlstand der letzten Jahre. Doch was ist davon geblieben? Zu lange haben wir uns auf dem Wohlstand ausgeruht und ihn als selbstverständlich erachtet.

Heute ist es offensichtlich: So kann es nicht weitergehen. Wir dürfen unsere Trägheit nicht weiter auf dem Rücken unserer Kinder und künftiger Generationen austragen und benötigen den Mut für ein Reformpaket, das die Agenda 2010 in den Schatten stellt. Sind wir bereit uns den drängenden Fragen nicht nur ehrlich zu stellen, sondern sie endlich auch beherzt anzupacken? Für mich ist klar: Deutschland benötigt kein Update. Deutschland benötigt ein neues Betriebssystem

von Henning Höne MdL, Landesvorsitzender der FDP Nordrhein-Westfalen und Fraktionsvorsitzender der Landtagsfraktion NRW

    Quellen:

    1. dbb beamtenbund und tarifunion (28.0.2023): dbb Bürgerbefragung Öffentlicher Dienst 2023: Der öffentliche Dienst aus Sicht der Bevölkerung. https://www.dbb.de/fileadmin/user_upload/globale_elemente/pdfs/2023/230815_dbb_Buergerbefragung_2023_final.pdf
    2. Der Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft (29.03.2023): Geringe Arbeitszeit schwächt den Standort Deutschland. https://www.iwd.de/artikel/geringe-arbeitszeit-schwaecht-den-standort-deutschland-580258/
    3. Zum Beispiel Intel in Magdeburg: 10 Milliarden Euro / TSMC in Dresden: 5 Milliarden Euro
    4. WELT (25.07.2023): IWF: Deutsche Wirtschaft schrumpft 2023 um 0,3 Prozent. https://www.welt.de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/wirtschaft_nt/article246572088/IWF-Deutsche-Wirtschaft-schrumpft-2023-um-0-3-Prozent.html
    5. Handelsblatt (11.04.2023): So viele deutsche Firmen wie seit 15 Jahren nicht wandern aus Kostengründen ab. https://www.handelsblatt.com/politik/konjunktur/nachrichten/standortpolitik-so-viele-deutsche-firmen-wie-seit-15-jahren-nicht-wandern-aus-kostengruenden-ab/29084292.html
    Gastbeitrag Henning Höne in "Die Welt"