Antisemitismus an nordrhein-westfälischen Schulen weiter entschieden bekämpfen und Lehrkräfte bestmöglich unterstützen
I. Ausgangslage
Der nordrhein-westfälische Landtag steht uneingeschränkt zu den 27.000 in Nordrhein-Westfalen lebenden Jüdinnen und Juden. Er tritt ein für ein sichtbares lebendiges Judentum in Deutschland und den Schutz jüdischen Lebens. Dies gilt umso mehr seit dem 7. Oktober 2023, an dem die Hamas terroristische Anschläge auf Israel verübt hat. Antisemitismus endete in Deutschland nicht mit dem Sieg über den Nationalsozialismus. In unserem Land sind leider täglich antisemitische Fälle zu beobachten: Im Jahr 2023 wurde ein Höchststand von 547 antisemitischen Straftaten gemeldet. Im vergangenen Jahr wurde im Auftrag der damaligen Antisemitismusbeauftragten des Landes Nordrhein-Westfalen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, und des Ministeriums des Innern eine Studie durch die Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Universität Passau durchgeführt, um die Verbreitung antisemitischer Einstellungen in der Bevölkerung Nordrhein-Westfalens zu untersuchen. Die Studie ist die erste große Um-frage zu antisemitischen Vorurteilen in Nordrhein-Westfalen seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und den Auswirkungen auf das Leben der Jüdinnen und Juden in Nordrhein-Westfalen. In der Studie wurde geprüft, inwiefern bestimmte Gruppen besonders hohe Antisemitismuswerte aufweisen. Die Studie hilft, die bisherige Datenlage zu verbessern und das Dunkelfeld besser zu beleuchten.
Die Ergebnisse zeigen auf, dass weiterhin deutlicher Handlungsbedarf besteht. 24 Prozent der Befragten zeigten in unterschiedlicher Form antisemitische Einstellungen. Die Shell-Jugendstudie 2024 liefert zudem beunruhigende Befunde hinsichtlich der besonderen Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel: Ein Drittel der Befragten aus der Altersgruppe 15 bis 25 Jahre steht für diese besondere Verantwortung ein, aber ein weiteres Drittel lehnt diese ab. Das verbleibende Drittel hat dazu keine Meinung. Jugendliche mit niedrigerer Bildung lehnen die besondere Verantwortung Deutschlands zu einem größeren Anteil ab als diejenigen mit höherer Bildung. Ebenso zeigen sich besonders gravierende Unterschiede je nach Familienherkunft. Jugendliche, die entweder selbst oder deren Eltern aus dem arabischen Raum oder der Türkei zugewandert sind, stimmen nur zu 26 Prozent zu. 42 Prozent dieser Gruppe und damit deutlich mehr als in allen anderen Gruppen lehnen diese besondere Verantwortung Deutschlands explizit ab. Es entspricht einer historischen Verantwortung aufgrund der Schoa, dass sich Deutschland immer für einen Staat Israel eingesetzt hat und weiterhin einsetzt. Denn ein Staat Israel bot und bietet Jüdinnen und Juden als Lehre aus einer jahrhundertelangen Verfolgung einen eigenen Schutzraum. Auch Menschen mit einer internationalen Familiengeschichte müssen für die historische Verantwortung Deutschlands sensibilisiert wer-den, denn aus ihr erwächst eine Verpflichtung nicht nur für alle Deutschen, sondern für alle, die in Deutschland leben.
Bereits vor dem 7. Oktober 2023 mussten Synagogen, Schulen und selbst Kindergärten in Deutschland von Polizei und Sicherheitsdiensten geschützt werden. Ein Bericht des Bundes-verbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e. V. (RIAS) zeigt eindrücklich auf, dass sich jüdische Bürgerinnen und Bürger auch in Deutschland derzeit nicht sicher fühlen und schon vor dem 7. Oktober 2023 mit der Erwartung lebten, dass erneut antisemitische Vorfälle passieren können.
Wenn Konflikte durch Judenhass in der Gesellschaft zunehmen, hat dies stets auch Auswirkungen auf das Schulleben. Es ist daher wichtig auch weiterhin in Schulen auf ein respektvolles Miteinander zu achten, antisemitischen Aussagen deutlich zu widersprechen und durch gezielt präventive Arbeit entgegenzuwirken. Alle am Schulleben Beteiligten haben die Aufgabe wirksam und gemeinsam gegen Ausgrenzung, Hass und Gewalt sowie alle Erscheinungsformen des Antisemitismus zu arbeiten. Dabei müssen die Sicherheit und der Schutz für jüdische Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte und schulisches Personal sowie all derjenigen in der Schule, die sich zivilgesellschaftlich solidarisch mit Jüdinnen und Juden zeigen und das Existenzrecht Israels verteidigen, gewährleistet sein. Deshalb ist es essenziell, dass unsere Schulen weiterhin die notwendige Aufklärungsarbeit um die grauenvollen Ereignisse vom 7. Oktober 2023 leisten. Schulen haben den Raum und die Chance und gemeinsam mit Eltern die Verantwortung, junge Menschen zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern in unserer freien, toleranten Gesellschaft und frei von Antisemitismus gegen Jüdinnen und Juden zu erziehen. Das lebendige Judentum Deutschlands muss im Bildungssektor sichtbar und zugänglich sein. Daran müssen wir in Nordrhein-Westfalen auch weiterhin arbeiten.
Antisemitismus hat vielfältige Erscheinungsformen und wird in verschiedensten gesellschaftlichen Milieus vertreten. In der von der Antisemitismusbeauftragten des Landes Nordrhein-Westfalen beauftragten Studie aus September 2024 wird zwischen vier Erscheinungsformen des Antisemitismus unterschieden: religiöser, moderner, sekundärer und israelbezogener Antisemitismus. Zudem wird darin zwischen den drei Kommunikationsformen des Antisemitismus differenziert: offener, camouflierter und tolerierter Antisemitismus. Die Schülerinnen und Schüler sollen lernen, alle diese Erscheinungs- und Kommunikationsformen zu verstehen und Falsch- und Desinformationen zu entlarven. Diese Phänomene nehmen in sozialen Medien zu. Gleichzeitig sind deren Plattformen oft die zentrale Informationsquelle von Schülerinnen und Schülern.
Daher ist das Erlernen des Erkennens und Umgangs mit Falschinformationen von besonderer Bedeutung. Es ist darauf zu achten, dass antisemitische Bestrebungen, gleich welcher Art, nicht auf fruchtbaren Boden fallen.
Nach den Angriffen der Hamas auf Israel im Herbst 2023 hat die Landesregierung zusätzliche Unterrichtsmaterialien bereitgestellt und Webinare angeboten, um Lehrkräfte bei der Einordnung der Ereignisse zu unterstützen. Zudem haben die Schulen Handlungsempfehlungen für den Umgang mit Antisemitismus erhalten und zivilgesellschaftliche Akteure stellen verstärkt Unterstützungsangebote für Schulen bereit, um der gestiegenen Nachfrage zu begegnen. Auch Einrichtungen wie die Servicestelle Antidiskriminierungsarbeit Beratung bei Rassismus und Antisemitismus (SABRA) sowie die Antidiskriminierungsberatung und Intervention bei Antisemitismus und Rassismus (ADIRA) bieten Schulen Unterstützung im Bereich der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit und Schulentwicklung. Dieses Engagement ist sehr zu begrüßen. Die enorme Nachfrage nach Unterstützungsleistungen, auch über ein Jahr nach dem terroristischen Überfall, zeigt die Brisanz und weiterhin hohe Bedeutung der Antisemitismusbekämpfung an unseren Schulen.
In der schulischen Bildungsarbeit kommt Lehrkräften in der Bekämpfung von Antisemitismus eine besondere Schlüsselfunktion zu. Entsprechende Aus- und Fortbildungsinhalte sind daher notwendig, damit Lehrkräfte nicht nur souverän intervenieren, sondern ebenso angstfrei präventive Aufklärungsarbeit leisten können. Allen Schülerinnen und Schülern müssen die unmenschlichen Verbrechen des Nationalsozialismus und die Verantwortung Deutschlands ins besondere gegenüber den Jüdinnen und Juden vermittelt werden. Gleichzeitig sollen unsere Schulen auch die Diskursfähigkeit von Schülerinnen und Schülern stärken sowie gegenseitiges Verständnis für verschiedene Sichtweisen aufgrund von kulturellen sowie religiösen Hintergründen weiter fördern. Politik und Gesellschaft müssen den Lehrkräften den Rücken stärken, nötigenfalls auch mit disziplinarischen Maßnahmen konsequent gegen antisemitische Vorfälle vorzugehen und bei dem Verdacht politisch motivierter Straftaten diese zur Anzeige zu bringen.
Bereits seit 2022 gilt für die Lehrerausbildung in Nordrhein-Westfalen verpflichtend, dass Absolventinnen und Absolventen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, wie Antisemitismus, kennen und in den praktischen Ausbildungsabschnitten Kompetenzen in Prävention und Intervention im Umgang damit entwickelt haben. Zudem findet sich das Thema „Antisemitismus“ in verschiedenen Fortbildungsangeboten wieder, beispielsweise für die Fächer Politik, Gesellschaftslehre, Geschichte und Sachunterricht. Dabei sind sowohl Sensibilisierung als auch fachliche Unterstützung der Lehrkräfte für das Thema Antisemitismus gewährleistet. Expertinnen und Experten sprechen sich für eine stetige Weiterentwicklung von Aus- und Fortbildungsinhalten in Hinblick auf antisemitische und andere extremistische Tendenzen aus. Ziel muss es sein, dass Schule jederzeit angemessen auf den Umgang mit Konflikten vorbereitet ist.
Der Landtag von Nordrhein-Westfalen hat unmissverständlich klargestellt, dass Schulbücher, die an unseren Schulen eingesetzt werden, unter keinen Umständen antisemitische Einstellungen befördern oder stereotype Vorstellungen tradieren dürfen. Nordrhein-Westfalen hat An-fang des Jahres 2023 eine Studie zu Antisemitismus in Schulbüchern vorgelegt. Die Prüfformulare wurden um den Prüfpunkt „Das Lernmittel ist frei von Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit" ergänzt. Die Gutachterinnen und Gutachter werden seitdem hinsichtlich dieses Prüfkriteriums gesondert geschult und sensibilisiert und die Schulbuchverlage wurden entsprechend informiert. Darüber hinaus arbeitet die von der Kultusministerkonferenz eingesetzte Arbeitsgruppe „Judentum in Bildungsmedien“ gemeinsam mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland und dem Verband Bildungsmedien an bundesweiten Vorgaben.
In der „Erklärung der Landesregierung zum jüdischen Leben in Nordrhein-Westfalen und zur Bekämpfung des Antisemitismus“ bekannte sich die Landesregierung bereits Anfang 2021 zur Antisemitismusdefinition der IHRA als Grundlage für ihr Regierungshandeln. Zudem hat die Landesregierung Ende 2023 mit einem 10-Punkte-Plan weitere Maßnahmen zusammengetragen, um Antisemitismus entgegenzuwirken. Er beinhaltet u. a. die Förderung der Schulkooperationen zwischen Schulen in Israel und Nordrhein-Westfalen. Diese und andere Begegnungsmaßnahmen sollen weiter ausgebaut werden. Begegnungsmaßnahmen im Rahmen von Schulpartnerschaften mit Israel, den palästinensischen Gebieten und Polen sowie Studientage in Yad Vashem, Auschwitz-Birkenau oder einer vergleichbaren Gedenkstätte werden derzeit mit knapp einer halben Million Euro gefördert.
Expertinnen und Experten raten dazu, bereits zu einem früheren Zeitpunkt Begegnung mit dem historischen und dem gegenwärtigen, vielfältigen Judentum zu schaffen. Daher leisten nicht zuletzt Programme wie „Meet a Jew“ oder „Schalom – jüdisches Leben heute“ wichtige Beiträge, um Kinder und Jugendliche in Kontakt zu bringen mit aktivem jüdischem Leben.
II. Beschlussfassung
Der Landtag stellt fest:
- Der nordrhein-westfälische Landtag tritt Antisemitismus in all seinen Erscheinungs- und Kommunikationsformen entschieden entgegen.
- Antisemitische Vorfälle treten an allen gesellschaftlichen Orten auf – auch in unseren Schulen.
- Es ist nicht hinzunehmen, dass jüdische Schülerinnen und Schüler und Lehrkräfte mit Angst zur Schule gehen. Schulen müssen für alle Kinder und Jugendlichen und die Beschäftigten in den Schulen sichere Orte sein.
- Schule ist ein zentraler Ort, an dem die Chance und Verpflichtung für präventive Bildungsarbeit besteht. Sie soll junge Menschen zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern in unserer freiheitlichen und offenen Gesellschaft und kritisch gegenüber Antisemitismus und anderen menschenverachtenden Einstellungen erziehen.
- Die Landesregierung hat unmittelbar nach dem 7. Oktober 2023 mit ausdrücklicher Unterstützung des Landesparlaments zusätzliche Materialien und Schulungen für Lehrkräfte bereitgestellt und damit die Schulen ad hoc im Kampf gegen Antisemitismus unterstützt.
- Mit der Einsetzung der Antisemitismusbeauftragten, deren Amt mittlerweile Sylvia Löhrmann übernommen hat, sowie der spezialisierten Beratungsstellen SABRA und ADIRA hat Nordrhein-Westfalen bereits in den letzten Jahren ein wichtiges Signal gesetzt und Strukturen geschaffen, um strukturell gegen Antisemitismus vorzugehen.
Der Landtag beauftragt die Landesregierung, im Rahmen vorhandener Mittel,
- die Einrichtung einer institutionellen Fortbildungseinrichtung für Lehrkräfte zum Thema Antisemitismus zu prüfen. Diese soll an einer in Nordrhein-Westfalen etablierten Gedenkstätte angesiedelt werden und das in Kooperation mit der Internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem bereits bestehende Lehrkräftefortbildungskonzept „Erziehung nach Auschwitz“ ausbauen und verstärken.
- in der verpflichtenden theoretischen wie praktischen Ausbildung von Lehrkräften im Umgang mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit wie Antisemitismus insbesondere auf fachdidaktische Seminare zu Extremismus, Propaganda und Fake News zu achten. Es ist zu prüfen, inwieweit der Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 7. Oktober 2022 in landesrechtliche Vorschriften zur Lehrkräfteausbildung verankert werden sollte.
- die Empfehlungen zur Darstellung des Judentums in Bildungsmedien, die gemeinsam vom Zentralrat der Juden in Deutschland, dem Verband Bildungsmedien e. V. und der Kultusministerkonferenz erarbeitet und im Januar 2025 vorgestellt wurden, entsprechend zu berücksichtigen.
- verstärkt heutiges jüdisches Leben sichtbar zu machen sowie Begegnung und Aus-tausch in Nordrhein-Westfalen und darüber hinaus zu fördern. Nordrhein-Westfälische Schulen sollen auf die vorhandene Förderung von Begegnungsmaßnahmen im Rahmen von Schulpartnerschaften mit Israel, den palästinensischen Gebieten und Polen aufmerksam gemacht und für die Nutzung der Angebote geworben werden.
- Gedenkstättenfahrten als festes Element im Unterricht zu verankern, damit sich jede Schülerin und jeder Schüler intensiv und erfahrbar mit den Folgen des Antisemitismus und der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus auseinandersetzt. Dafür ist eine Anpassung der Förderrichtlinie „Gedenkstättenfahrten“ insbesondere hinsichtlich maximaler Fördersummen pro Fahrt, der maximalen Fördersummen pro Teilnehmer und die Höhe des Eigenanteils zu überprüfen. Grund- und weiterführende Schulen zum Besuch außerschulischer Lernorte zur interreligiösen und -kulturellen Begegnung zu ermuntern. Alle Schülerinnen und Schüler sollen möglichst bis zur 10. Klasse einmal christliche Kirchen, Moscheen und Synagogen besucht haben.
- den Wettbewerb „Shalom – jüdisches Leben heute!“ der Bezirksregierung Münster auf das gesamte Land auszuweiten.
- sich beim Bund dafür einzusetzen, das Programm „Meet a Jew“ finanziell noch stärker zu unterstützen und auszubauen.
- Maßnahmen, Materialien und Angebote zentral zusammenzufassen und niederschwellig für Lehrkräfte, Eltern sowie Schülerinnen und Schüler zugänglich zu machen, um ein systematisches Vorgehen gegen Antisemitismus für unsere offene, zur Demokratie verpflichtete Gesellschaft im Bildungssystem zu erleichtern. Hierbei müssen insbesondere die verschiedenen Erscheinungs- und Kommunikationsformen des Antisemitismus Berücksichtigung finden.
- Außerschulische Bildungsangebote und Initiativen, die in einer heutigen Einwanderungsgesellschaft zur Aufklärung und Auseinandersetzung mit jüdischem Leben beitragen, stärker als bisher zu vernetzen.
- Rechtsextremismus- oder Islamismus-Aussteigerprogramme in die schulische Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit zu integrieren.
- Schulleitungen und Schulaufsicht über Umfang, Reichweite und Anwendbarkeit erzieherischer Einwirkungen, Ordnungsmaßnahmen und Kriseninterventionshilfen im schulischen Bereich noch einmal gesondert zu informieren, um ein möglichst einheitliches und rechtssicheres Vorgehen zu gewährleisten.