Berufsorientierung stärken – Freiwilliges Handwerksjahr einführen!

I. Ausgangslage

Der Fachkräftemangel ist eines der größten Wachstumshemmnisse in Deutschland und Nordrhein-Westfalen. Vor allem im Bereich der beruflich Qualifizierten und gerade auch bei Handwerksberufen fehlen Fachkräfte. Das System der beruflichen Bildung soll nicht nur jungen Menschen einen Einstieg in das Erwerbsleben ermöglichen, sondern auch Betrieben qualifizierte Fachkräfte sichern. Dazu müssen aber möglichst viele junge Menschen für eine Berufsausbildung gewonnen sowie Angebot und Nachfrage auf dem Ausbildungsmarkt besser zusammengebracht werden.

Die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge ist im Jahr 2023 zwar bundesweit um 3,0 Prozent gestiegen, liegt allerdings noch immer deutlich unterhalb des Vor-Corona-Niveaus. Die Zahl der unbesetzten Ausbildungsstellen ist weiter gestiegen auf 73.400. Gleichzeitig blieben mit 26.400 aber auch mehr Bewerberinnen und Bewerber unversorgt. Bedenklich ist, dass die Vertragslösungsquote mit 29,5 Prozent im Jahr 2022 deutlich über den in den vorherigen Jahren üblichen Werten lag. In Nordrhein-Westfalen haben 106.272 Auszubildende im Jahr 2023 einen Ausbildungsvertrag neu abgeschlossen. Damit lag die Zahl der Neuabschlüsse um 0,4 Prozent über dem Vorjahreswert. Im Handwerk war hingegen ein Rückgang der Auszubildenden um 1,4 Prozent zu verzeichnen.

Dies zeigt die Herausforderungen für die Akteure der beruflichen Bildung. Neben höherer Wertschätzung und einer Förderung der Gleichwertigkeit zur hochschulischen Ausbildung muss auch die Berufsorientierung gestärkt werden. Dabei sollten bewährte Instrumente beim Übergang zwischen Schule und Beruf wie „Kein Abschluss ohne Anschluss“ durch neue Ansätze ergänzt werden. Die Berufsfelderkundung ab der Jahrgangsstufe 8 der Schulen sowie die Praxiskurse in den Jahrgangsstufen 9 und 10 umfassen wenige Tage, Betriebspraktika in der Regel zwei bis drei Wochen. Weitere Erfahrungen in der betrieblichen Praxis über einen längeren Zeitraum können die Berufsorientierung nach dem Schulabschluss ergänzen und verbessern.

In Schleswig-Holstein wurde zum 1. Juli 2024 das Freiwillige Handwerksjahr (FHJ) als neues Instrument zur Berufsorientierung eingeführt. Ausbildungsinteressierte lernen im FHJ während eines Jahres vier unterschiedliche Ausbildungsberufe im Handwerk während je dreimonatiger Praktika kennen. Jugendliche können herausfinden, wo ihre beruflichen Talente und Stärken liegen und darauf aufbauend eine fundierte Entscheidung treffen. Für Ausbildungsbetriebe ist das Angebot die ideale Gelegenheit, angehende Azubis für ihren Betrieb zu gewinnen. Ausbildungsinteressierte und Ausbildungsbetriebe können so vor Ausbildungsbeginn testen, ob sie zueinanderpassen und der Beruf die richtige Wahl darstellt. Dies ermöglicht nicht nur einen erfolgreichen Ausbildungsstart, sondern könnte auch die Abbrecherquoten in der Ausbildung deutlich reduzieren.

Die Handwerkskammer Lübeck übernimmt Ansprache und Werbung für das FHJ und unterstützt Betriebe u. a. bei rechtlichen Fragen. Neben der allgemeinen Lehrstellenbörse hat sie zudem ein Portal für einen FHJ-Betriebspool eingerichtet. Bei den vermittelten Praktika handelt es sich um freiwillige Berufsorientierungspraktika, die nicht dem Mindestlohn unterliegen. Als Aufwandsentschädigung, zum Beispiel auch für Fahrtkosten, erhalten FHJler 450 Euro brutto monatlich. Die Vermittlung und Teilnahme am Projekt ist für Betriebe kostenfrei, da es sich um ein vom Land über das Schleswig-Holsteinische Institut für Berufliche Bildung (SHIBB) gefördertes Projekt handelt.

Bereits in den ersten drei Wochen meldeten sich nach Angaben der Handwerkskammer Lübeck mehr als 100 Betriebe, die mitmachen wollen. Außerdem haben sich 60 Jugendliche angemeldet. Zudem würden sich viele Interessierte, Eltern und Lehrer telefonisch melden, um sich zu informieren. Diese ersten positiven Ergebnisse regen an, auch in Nordrhein-Westfalen ein Freiwilliges Handwerksjahr einzuführen. Dies sollte analog zu dem Projekt in Schleswig Holstein vom Land unterstützt werden. Zudem müssen die rechtlichen Rahmenbedingungen für ein Freiwilliges Handwerksjahr geklärt werden.

Das Gesetz zur Förderung von Jugendfreiwilligendiensten (Jugendfreiwilligendienstegesetz - JFDG) regelt insbesondere die Rahmenbedingungen für das Freiwillige Soziale Jahr (FSJ) und das Freiwillige Ökologische Jahr (FÖJ). Es sieht vor, dass Jugendliche nach Erfüllung der Schulpflicht, aber vor der Vollendung des 27. Lebensjahres einen 6- bis 18-monatigen Freiwilligendienst in gesellschaftlichen und ökologischen Bereichen im In- und Ausland leisten können. Dienstleistende verfügen über eine klar geregelte Aufwandsentschädigung, sind versichert, werden begleitet, qualifiziert und haben feste Ansprechpersonen. Perspektivisch könnte das JFDG für weitere Angebote zur beruflichen Orientierung wie ein Freiwilliges Handwerksjahr geöffnet werden.

Zudem kann ein FHJ die Attraktivität von Freiwilligendiensten allgemein durch das Vorhandensein einer weiteren Option noch steigern. In Nordrhein-Westfalen entschieden sich im Jahr 2020 lediglich 5 Prozent der Absolventinnen und Absolventen allgemeinbildender Schulen für ein FSJ, während der bundesweite Schnitt bei 7 Prozent und in Baden-Württemberg sogar bei 13 Prozent lag. Diese vergleichsweise geringe Beteiligung zeigt, dass es weiterer Anreize sowie der Verbesserung der Rahmenbedingungen in Nordrhein-Westfalen bedarf, um junge Menschen für Freiwilligendienste zu gewinnen. Die Einführung eines zusätzlichen Angebots FHJ könnte eine attraktive Alternative für praktisch bzw. handwerklich orientierte Jugendliche darstellen und somit die generelle Beteiligungsquote erhöhen.

II. Beschlussfassung

Der Landtag fordert die Landesregierung auf,

  • in Zusammenarbeit mit den Handwerkskammern und Kreishandwerkerschaften ein Freiwilliges Handwerksjahr für Schulabgängerinnen und Schulabgänger in Nordrhein-Westfalen vergleichbar zu dem Projekt der Handwerkskammer Lübeck einzuführen, das sich in vier Praxisphasen von jeweils drei Monaten in unterschiedlichen Ausbildungsberufen gliedert, idealerweise in Ausbildungsbetrieben absolviert wird und bei dem eine monatliche Aufwandsentschädigung in der in anderen Freiwilligenjahren üblichen Höhe gezahlt wird,
  • die rechtlichen Rahmenbedingungen für ein entsprechendes Freiwilliges Handwerksjahr zu klären,
  • die Einführung eines Freiwilligen Handwerksjahres mit einer Landesförderung zu unterstützen,
  • sich auf Bundesebene für eine Öffnung des Gesetzes zur Förderung von Jugendfreiwilligendiensten (JFDG) einzusetzen, um weitere Angebote zur beruflichen Orientierung wie ein Freiwilliges Handwerksjahr aufzunehmen sowie
  • die Attraktivität und Bekanntheit der Freiwilligendienste in Nordrhein-Westfalen zu steigern, um mehr junge Menschen für ein freiwilliges Engagement zu gewinnen.