Bildung mit Profil – Hauptschulen zu modernen „Praxis-Schulen” weiterentwickeln
I. Ausgangslage
Die Hauptschule leistet seit Jahrzehnten einen wichtigen Beitrag zur Bildungsbiografie vieler junger Menschen. Sie steht für praxisnahe Bildung, intensive Begleitung und ein hohes Maß an individueller Zuwendung. Dennoch hat diese Schulform durch bildungspolitische Entscheidungen früherer Regierungen, insbesondere unter rot-grüner Führung, erheblich an Substanz verloren: Standortschließungen, fehlende Investitionen und politische Zielsetzungen zugunsten integrierter Systeme haben zur Abwertung der Hauptschule beigetragen. Auch in der öffentlichen Wahrnehmung hat dies Spuren hinterlassen.
Die Realität in den Kommunen zeigt: Wo Hauptschulen erhalten wurden und auf ein engagiertes Kollegium, funktionierende Kooperationen und enge sozialräumliche Einbindung setzen können, haben sie sich stabilisiert. Besonders kleine, überschaubare Hauptschulen bieten häufig sehr individuelle Förderung, kennen ihre Schülerinnen und Schüler gut und können gezielt auf persönliche Bedarfe eingehen – eine Stärke, die im bildungspolitischen Diskurs nicht ausreichend anerkannt wird.
In der öffentlichen Debatte wird die Rolle der Hauptschule oft isoliert betrachtet. Dabei leistet sie auch einen wichtigen Beitrag für das Gesamtsystem: Eine starke und profilierte Hauptschule entlastet andere Schulformen – insbesondere die Realschulen, die in vielen Städten durch begrenzte Raumkapazitäten und eine zunehmende Heterogenität ihrer Schülerschaft herausgefordert sind. Vor diesem Hintergrund ist die Schulgesetzänderung, die der Landtag unlängst beschlossen hat und die eine Öffnung der Realschulen für den Hauptschulbildungsgang vorsieht, aus Sicht der FDP-Fraktion der falsche Weg. Diese Maßnahme droht die Profile der Schulformen weiter zu verwässern und die funktionale Klarheit des gegliederten Schulsystems zu untergraben.
Die FDP-Landtagsfraktion stellt dem jüngsten Beschluss einen bewusst anderen bildungspolitischen Ansatz entgegen: die Stärkung der Hauptschule als eigenständige Schulform mit einem attraktiven Profil und klarer Perspektive. Denn es besteht ein großer Bedarf an Fachkräften in Branchen, die Hauptschulabsolventen einstellen, sei es im Handwerk, in der Industrie, in der Pflege oder in der Gastronomie. Es muss das Ziel sein, bei jungen Menschen eine gute Basis für eine berufliche Ausbildung zu legen, damit sie in qualifizierte Beschäftigungsverhältnisse kommen und ein selbstbestimmtes Leben führen können.
Viele Hauptschulen in Nordrhein-Westfalen zeigen bereits heute große Innovationskraft. Sie entwickeln praxisnahe Konzepte, kooperieren mit Betrieben, Jugendhilfe und sozialen Trägern, integrieren handlungsorientiertes Lernen in den Unterricht und setzen auf kreative Wege zur Stärkung der Ausbildungsfähigkeit. Diese Ansätze bewegen sich jedoch manchmal in rechtlich unsicheren Räumen oder hängen von kurzfristigen, projektbezogenen Fördermitteln und lokalem Engagement durch Kommunen, Betriebe und Ehrenamt ab. Dies gefährdet ihre Verstetigung und behindert die Übertragbarkeit erfolgreicher Konzepte.
Die FDP-Landtagsfraktion setzt deshalb auf einen klaren bildungspolitischen Gegenentwurf zur Öffnung der Realschulen für den Hauptschulbildungsgang. Statt der organisatorischen Verlagerung sollte auf das Konzept „Praxis-Schule“ in Verbindung mit eigenständiger Profilbildung gesetzt werden. Hauptschulen sollen selbstbewusst eigene Schwerpunkte entwickeln können – je nach lokalem Bedarf, Sozialraum und Kooperationsmöglichkeiten. Ein klar profiliertes Angebot vor Ort erhöht die Attraktivität dieser Schulform, stärkt das mehrgliedrige Schulsystem, unterstützt die Schulentwicklungsplanung und sorgt auch für mehr Klarheit und Berechenbarkeit für Eltern sowie Schülerinnen und Schüler bei der Schulwahl.
Hauptschulen sollen zu modernen „Praxis-Schulen“ weiterentwickelt werden, die sich durch ein eigenes pädagogisches Profil, Lebensweltbezug und konsequente Berufsorientierung auszeichnen. Eine „Praxis-Schule“ ist eine Schule mit klarem Auftrag: jungen Menschen reale Chancen auf Ausbildung, gesellschaftliche Teilhabe und Selbstbestimmung zu eröffnen.
Das Konzept der „Praxis-Schule” umfasst dabei folgende Kernelemente:
- Langzeitpraktika in den höheren Jahrgangsstufen in Betrieben oder sozialen Einrichtungen als integraler Bestandteil des Curriculums und als gleichwertiger Bildungsbestandteil.
- Verbindliche Bewertung von Praktikumsleistungen, gemeinsam mit den Partnerbetrieben, die nach pädagogisch abgestimmten Kriterien in Zeugnisse einfließen.
- Curriculare Freiräume, um schulinterne Schwerpunkte in den Bereichen Berufsorientierung, Lebenspraxis (z. B. Haushaltsführung, Gesundheit, digitale Kompetenzen), soziale Kompetenz und Alltagsbewältigung zu setzen.
- Verzahnung mit Projekten in außerschulischen Lernorten wie Werkstätten, Höfen, Sportvereinen oder Jugendzentren.
- Einbindung von „Bildungslotsen für Praxis und Lebenswelt“, die ihre Berufs- und Lebenserfahrung in den Schulalltag einbringen und Lehrkräfte in der praktischen Bildung sowie in sogenannten „Life-Lessons“ begleiten.
Das Ziel ist eine neue Kultur der Wertschätzung für praxisorientiertes Lernen als bewusst gewählte, qualitativ hochwertige Bildungsform. Hauptschulen müssen Orte sein, an denen Jugendlichen nicht nur Wissen, sondern auch Können und Zutrauen vermittelt wird. In diesem Zusammenhang ist es notwendig, echte Partnerschaften zwischen Schulen, Sozialraum und Wirtschaft zu fördern – langfristig, rechtssicher und bürokratiearm. Kommunen und Schulträger sollen ermutigt und befähigt werden, eigene Konzepte zu entwickeln. So sind etwa Schulcampus-Modelle eine geeignete Möglichkeit: Räumlich vernetzte Bildungsorte, an denen Hauptschulen gemeinsam mit anderen Schulen und Einrichtungen wie Kitas, Jugendzentren, Betrieben und Familienhilfen eine Bildungslandschaft bilden und wo die Schülerinnen und Schüler sich gewinnbringend für das Gemeinwohl einbringen können. Das stärkt das Selbstvertrauen durch selbstwirksames Handeln.
Zentrale Voraussetzung für das Gelingen ist: Schulen brauchen Handlungsspielräume – und sie brauchen Ressourcen. Deshalb fordern wir mehr pädagogische Freiheit und flexible Schulbudgets für Hauptschulen, die eigenverantwortlich vor Ort eingesetzt werden können. So sollen sie auf konkrete Bedarfe reagieren und individuelle Projekte finanzieren. Schulen sollen Innovationen ohne bürokratische Hürden umsetzen und eigenständig Verantwortung übernehmen können.
Neben der strukturellen und konzeptionellen Weiterentwicklung der Hauptschule braucht es auch neue Akzente im schulischen Personal. Um die Praxisorientierung, Lebensweltnähe und Berufsrelevanz an Hauptschulen weiter zu stärken, sollen gezielt zusätzliche Akteure eingebunden werden: Bildungslotsen für Praxis und Lebenswelt.
Diese Personen sollen die Lehrkräfte nicht ersetzen, sondern ergänzen – etwa durch berufspraktische Projekte, Begleitung an außerschulischen Lernorten, Anwendung lebensnaher Kompetenzen oder durch das Einbringen eigener beruflicher Erfahrungen. Denkbar sind dafür Persönlichkeiten aus Handwerk, Pflege, Wirtschaft, Landwirtschaft, Sozialarbeit, Gastronomie oder Kreativwirtschaft. Sie wirken als Brückenbauer zwischen Schule und Lebensrealität und unterstützen die Schülerinnen und Schüler in der Entwicklung ihrer Selbstwirksamkeit und Berufsorientierung. An den „Praxis-Schulen” sollen Jugendliche durch lebensnahe Bildung, gezielte Unterstützung und reale Praxiserfahrungen zu Erfolg und Selbstbewusstsein finden.
II. Beschlussfassung
Der Landtag stellt fest:
- Das gegliederte Schulsystem bietet die notwendige Differenzierung für individuelle Bildungswege.
- Die Hauptschule hat als praxisorientierte Schulform eine eigenständige Rolle und wichtige Funktion im System.
- Viele Hauptschulen entwickeln bereits innovative Konzepte, stoßen jedoch auf rechtliche Unsicherheiten und projektabhängige Ressourcen.
- Schulische Innovation braucht mehr pädagogische Freiheit, verlässliche Rahmenbedingungen und flexible Budgets.
- Kooperationen mit Betrieben, Jugendhilfe und dem Sozialraum sind zentrale Erfolgsfaktoren.
- Schulcampus-Modelle stärken die Verankerung der Hauptschule im Umfeld und erhöhen ihre Wirksamkeit.
- Profilierte Hauptschulen mit hoher Nachfrage entlasten Real-, Sekundar- und Gesamtschulen und stabilisieren die Sekundarstufe I.
- Die Öffnung der Realschulen für den Hauptschulbildungsgang untergräbt die Profilklarheit des gegliederten Systems.
- Der bessere Weg liegt in attraktiven, eigenständigen Hauptschulprofilen mit klarer Berufs- und Lebensweltorientierung.
Der Landtag beauftragt die Landesregierung,
- die Profilbildung aller Schulformen im gegliederten Schulsystem zu stärken.
- Hauptschulen zu „Praxis-Schulen“ weiterzuentwickeln, in denen Kernkompetenzförderung, soziale Bildung und Berufsorientierung sehr eng verknüpft werden. Das Konzept umfasst:
- Langzeitpraktika, die im Curriculum als gleichwertiger Bildungsbestandteil integriert sind und benotet werden,
- Hauptschulen als zentralen Bestandteil eines lokal vernetzten Bildungs- und Sozialraums zu festigen,
- die Schulsozialarbeit an Hauptschulen auszubauen,
- mehr praktische Unterrichts- und Prüfungsinhalte in der Ausbildungs- und Prüfungsordnung (APO SI) zu verankern,
- den Einsatz von „Bildungslotsen für Praxis und Lebenswelt“ an Hauptschulen, mit dem Ziel, Schülerinnen und Schüler durch lebensnahe Lernangebote, Praxisprojekte und außerschulische Lernorte gezielt auf Ausbildung und eigenverantwortliches Handeln vorzubereiten.
- Hauptschulen als Ganztagsform zu standardisieren, um eine ganzheitliche individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler sicherzustellen,
- flexible Schulbudgets für Hauptschulen einzuführen, die eigenverantwortlich zur Entwicklung und Umsetzung lokaler, passgenauer Kooperationen und Initiativen genutzt werden können,
- Hauptschulen rechtliche Sicherheit für schulische Innovationen und lokale Profilbildung zu geben – durch transparente Rahmenregelungen und eine unterstützende Schulaufsicht.
- gemeinsam mit den Kommunen flexible Nutzungskonzepte für die Gebäude der Hauptschulen zu entwerfen, um die Anbindung von Jugendhilfeeinrichtungen oder sozialen Projekten zu vereinfachen.
- gezielte Beratung für die kommunale Schulentwicklung anzubieten, um den Bestand von Hauptschulen zu sichern.
- die Zusammenarbeit zwischen Hauptschulen, Betrieben, Jugendhilfe und außerschulischen Trägern strukturell und finanziell zu fördern.
- Schulen mit hohen Anteilen nicht-deutschsprachiger Schülerinnen und Schüler zusätzliche Ressourcen zur Sprachförderung und sozialen Integration bereitzustellen.