Chancengleichheit für Kinder mit Lese-Rechtschreibstörung & Rechenschwäche

I. Ausgangslage

Gemäß der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) leiden Kinder und Jugendliche
an einer Lese- und Rechtschreibstörung (LRS), wenn ihre Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten nicht durch externe Faktoren oder eine geringe Intelligenz erklärt werden können. Beim Schreiben und Lesen kommt es zu Buchstabenauslassungen, -hinzufügungen und/oder -vertauschungen. Die genannten Herausforderungen beeinträchtigen nicht nur den Erwerb von Lesen und Schreiben im Deutschunterricht, sondern auch in anderen Fächern. Wenn eine Schülerin oder ein Schüler eine Textaufgabe in Mathematik aufgrund einer LRS nicht versteht, wird er sie wahrscheinlich auch nicht richtig lösen können.

Jedes achte Grundschulkind ist von einer Lernstörung betroffen. Dabei gelten Lernstörungen
als Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten. Eine Lernstörung oder auch Teilleistungsstörung bedeutet, dass ein Teilbereich, wie Lesen, Schreiben oder Rechnen, des Lernens unabhängig nach ICD-10 vom Intelligenzquotienten oder Schädigung in der Hör- und Sehverarbeitung, einer erworbenen Hirnschädigung oder erworbenen Hirnerkrankung ist.

Neben der Lernstörung sind ca. vier bis sechs Prozent der Grundschulkinder von einer Lern-
schwäche betroffen. Bei Lernschwächen handelt es sich um erwartungswidrige Minderleistungen. Wenn gravierende Schwierigkeiten des Schriftsprach- oder Rechenerwerbs vorliegen, spricht man von Lernschwächen. Damit liegt eine Schwäche vor, wenn eine altersbezogene Diskrepanz oder eine Diskrepanz zur Klassennorm vorliegt und dadurch Defizite bestehen.

Laut dem LRS-Erlass für Nordrhein-Westfalen sollten Schulen und damit die Deutschlehrkräfte
in der Lage sein, Schülerinnen und Schüler zu identifizieren, die Schwierigkeiten beim Lesen
und Schreiben über einen Zeitraum von drei Monaten haben. Die Diagnose erfolgt in der Regel über die Beobachtung und Reflexion im Deutschunterricht. Eine standardisierte Testdiagnostik ist nicht vorgeschrieben. Ein externes ärztliches oder psychologisches Gutachten ist ebenfalls nicht notwendig. In Einzelfällen kann sich die Lehrkraft Unterstützung bei der Diagnose durch eine erfahrene Lehrkraft, die Schulpsychologie oder andere Fachleute einholen. Dabei sollen Schülerinnen und Schüler mit LRS individuell innerhalb der Schule gefördert wer-
den.

Außerdem soll über einen Nachteilsausgleich und Notenschutz bei Klassenarbeiten sichergestellt werden, dass betroffene Schülerinnen und Schüler durch schlechte Noten nicht entmutigt und gestresst werden. Einen Anspruch auf Nachteilsausgleich besteht in Deutschland für Menschen mit Teilleistungsstörungen. Dieser Anspruch ist im Sozialgesetzbuch IX verankert und bezieht sich auf die UN-Behindertenkonvention. Gemäß dieser Konvention fallen Menschen mit Teilleistungsstörungen unter den Begriff Behinderung. In NRW bildet § 2 Absatz 5 des Schulgesetzes die rechtliche Grundlage. Schülerinnen und Schüler mit „nur“ einer Lernschwäche haben keinen Anspruch auf Nachteilsausgleich.

Hinzu kommt die Elternarbeit. Sie ist ein wichtiger Bestandteil der Förderung von Schülerinnen
und Schülern mit Lernstörungen. Eltern nehmen eine wichtige Rolle bei der Unterstützung der
Kinder beim Lernen und bei der Zusammenarbeit mit Lehrkräften und Fachleuten ein. Dabei hängt die außerschulische Förderung dieser Kinder meist von den finanziellen Mitteln der Eltern ab. „Damit kommen wir wieder auf die Chancengleichheit: Das kostet in der Regel etwa 300 bis 350 Euro im Monat.“

Diese finanziellen Forderungen müssen häufig privat finanziert werden. Chancengleichheit aller Kinder ist daher nicht gewährleistet. Für die Teilleistungsstörung Dyskalkulie/Rechenstörung liegt kein Erlass und somit kein Um- gang im Schulalltag vor.

II. Beschlussfassung

Der Landtag stellt fest, dass

•die aktuellen Erlassregelungen dem aktuellen Wissenstand der Forschung zur Dyskalkulie/Rechenstörung5 und der Lese-Rechtschreibstörung6 nicht gerecht werden, obwohl
entsprechende konsensbasierte wissenschaftliche Leitlinien vorliegen.

•die vorliegende Situation im Umgang bzgl. Dyskalkulie und LRS zu Chancenungleichheit
von Kindern führt.

•umfassende Beratungs-, Unterstützungs- und Therapieangebote flächendeckend ver-
fügbar sein müssen, um Chancengleichheit aller Kinder zu gewährleisten.

•Lehrkräfte in ihrer Kompetenz gestärkt werden müssen, LRS und Dyskalkulie zu erkennen sowie angemessene Förderung und Nachteilsausgleiche anzubieten.

Der Landtag fordert die Landesregierung auf,

•den LRS-Erlass zu überarbeiten und um Dyskalkulie/Rechenstörung zu ergänzen sowie
dabei die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu berücksichtigen. Insbesondere
nachfolgenden Punkte sollten enthalten sein:

o Es soll eine Fortbildungsoffensive für LRS und Dyskalkulie/Rechenstörung geben,
bei der mindestens eine Expertin oder ein Experte pro Schule eingesetzt wird.

o LRS und Dyskalkulie sollen in der Lehrerausbildung stärker verankert werden.

o Es sollen Nachteilsausgleiche auch für Dyskalkulie ermöglicht werden.

o Es soll eine Testbatterie entwickelt werden, um Vorläuferfähigkeiten für das Schreiben und Rechnen zu diagnostizieren und Entwicklungsstörungen frühzeitig zu erkennen.

o Lerntherapie und Sprachtherapie/Logopädie sollen im Rahmen der Schule angeboten werden.

o Es soll ein Case-Management mit Kooperationszeit innerhalb der multiprofessionellen Teams (zwischen Lehrkräften und weiteren therapeutischen Professionen) geben, um sich über die gemeinsame Arbeit mit den Kindern austauschen zu können.

o Eine landesweite Beratungsstelle soll Betroffene, Eltern und Lehrkräfte unterstützen. Die Angebote der Beratungsstelle sollen auch digital verfügbar sein.

o Bei der Diagnose sollen auch die Kompetenzen von mehrsprachig aufwachsenden
Kindern berücksichtigt werden.

o Die Regelungen des LRS-Erlasses zum Nachteilsausgleich sollen auch für die
Oberstufe gelten.

•den LRS-Erlass im Schulgesetz zu verankern. Die meisten Schulen in Nordrhein-Westfalen verlangen von betroffenen Schülerinnen und Schülern fachärztliche Atteste, um LRS anzuerkennen. Das ist rechtswidrig. Ein Grund für diese Situation an den Schulen
in Nordrhein-Westfalen sind die fehlenden Kenntnisse über die LRS. In Anbetracht dieser Tatsache fordern wir die Landesregierung auf, den LRS-Erlass im Schulgesetz zu verankern und damit vollständig umzusetzen.