Übergang von der Pandemie zur Endemie – Nordrhein-Westfalen muss jetzt den Weg zur Aufhebung der verbindlichen Infektionsschutzmaßnahmen aufzeigen
I. Ausgangslage
Der Landtag hat im Rahmen der Pandemischen Leitlinien gemäß § 3 Absatz 2 Satz 1 Infektionsschutz- und Befugnisgesetz mehrfach die Notwendigkeit einer Exit-Strategie beschlossen, zuletzt am 17. Februar 2022 (Beschlussdrucksache 17/16586). Dazu wird ausgeführt: „Bei der Bekämpfung der Pandemie gehört selbstverständlich die Entwicklung einer Exit-Strategie unumgänglich dazu. Dieser Aspekt ist daher bereits seit Anfang September 2021 Teil des Leitlinien-Kataloges. […] Die Exit-Strategie muss den Bürgerinnen und Bürgern darlegen, an welchem Punkt und zu welchen Kriterien die Selbstverantwortung gegenüber staatlichem Handeln in den Vordergrund rückt. […] Ein Verzicht auf alle Schutzmaßnahmen und damit die Rückkehr zu einem Leben wie vor Beginn der Corona-Pandemie ist das erklärte Ziel der Corona-Politik.“ Insofern ist die Landesregierung gefordert, Kriterien für einen Verzicht auf die verbindlichen Infektionsschutzmaßnahmen zu definieren. Diese Kriterien müssen damit auch konkrete Anhaltspunkte liefern, wann ein Verzicht auf sämtliche Schutzmaßnahmen möglich ist.
Die im Oktober 2022 veröffentlichten Zwischenergebnisse der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten IMMUNEBRIDGE-Studie zum Immunisierungsgrad in der Bevölkerung gegen SARS-CoV-2 zeigen, dass 95 Prozent der Bevölkerung aufgrund von Impfung bzw. Infektion bereits Antikörper gegen das Coronavirus besitzen und damit eine Grundimmunität entwickelt haben. Die Daten zeigen weiterhin, dass in Nordrhein-Westfalen 93 Prozent der Bevölkerung im gesamten Untersuchungszeitraum bereits drei bestätigte Expositionen (Impfung oder Infektion) sowie 47 Prozent zusätzlich eine bestätigte Exposition in 2022 aufweisen.
Mit diesen Werten liegt Nordrhein-Westfalen im bundesweiten Vergleich im vorderen Bereich, wie dies auch die Landesregierung in der Antwort auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Henning Höne, Marcel Hafke und Yvonne Gebauer „Wann endet die Pandemie und was sind die Kriterien der Landesregierung für einen Verzicht auf Schutzmaßnahmen?" (Drucksache 18/1939) festgestellt hat. Demnach ist ein Großteil der Menschen in unserem Land moderat bis gut gegen einen schweren Verlauf einer COVID-19-Erkrankung, ausgelöst durch die bisherigen Virusvarianten, geschützt.
In einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk (BR) hat der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission (Stiko) Prof. Dr. Thomas Mertens am 27. Oktober 2022 ausgeführt, dass man die Corona-Pandemie als beendet ansehen könne und es sich mittlerweile um eine endemische Virusinfektion handeln würde. Eine Pandemie sei dadurch definiert, dass ein weltweit unbekannter Erreger, mit dem die Menschen keine immunologische Erfahrung hätten, in die Population einbreche. Diese Situation sieht er nicht mehr gegeben. COVID-19 bleibe uns aber noch über Generationen erhalten, so Mertens.
In einem Interview mit der „Zeit“ vom 23. November 2022 spricht Prof. Dr. Christian Drosten davon, dass die Lage für das Virus prekär wird. Er erläutert die so genannte konvergente Evolution wie folgt: „Dieses Virus hat sich jetzt auf eine Nische festgelegt. BA.1 und BA.2, die ersten Omikron-Varianten, hatten noch nicht perfekt auf die wachsende Bevölkerungsimmunität reagiert, und da hat das Virus noch mal einen Schwenk gemacht: in Richtung BA.2.75 und BA.5. Seitdem stammen eigentlich alle Varianten von diesen beiden ab. Die BA.5-Variante ist wohl die evolutionäre Anpassung des Erregers an eine Bevölkerung, die zusätzlich zur Impfung auch schon eine BA.1-Durchbruchinfektion hatte. Die BA.2.75-Variante wiederum passt zu einer Bevölkerung, die stark mit Delta konfrontiert war. Die Evolution der beiden Viruslinien – die der impfenden Länder und jene aus Indien nach der schrecklichen Delta-Welle – kommt jetzt zu sehr ähnlichen Lösungen, wie die Viren der Bevölkerungsimmunität entgehen können. Wahrscheinlich verfestigt sich dabei gerade ein neuer Serotyp, also eine länger gültige Immunvariante.“
In der Folge erwartet Drosten, dass die Risiken immer kleiner werden. Daten aus Katar würden zeigen, dass eine überstandene Infektion vor einer Neuinfektion mit dem gleichen Serotyp fast eineinhalb Jahre lang schützt und bei einem anderen Serotyp wenigstens sechs oder sieben Monate lang. Nach Einschätzung von Drosten wird das Virus wahrscheinlich zunächst beim jetzigen Serotyp bleiben und wir würden einen lang anhaltenden Schutz haben. Erwachsene würden sich dann viel seltener anstecken.
Auch die aktuelle Entwicklung des Infektionsgeschehens weist auf einen Übergang zur endemischen Phase hin. Die Zahlen schwerer COVID-19-Verläufe und die Belastung der Intensivstationen sind seit dem Frühjahr 2022 relativ niedrig geblieben, obwohl im Sommer und Herbst Wellen mit höheren Infektionszahlen aufgetreten waren. Weiterhin wird mit der zunehmenden Verbreitung der Sublinien BQ.1.1 und BF.7 keine Erhöhung der Krankheitslast beobachtet. Aktuell dominieren bei den akuten Atemwegserkrankungen vor allem Influenzaviren und Respiratorischen Synzytialviren (RSV), SARS-CoV-2 spielt eine untergeordnete Rolle.
In Dänemark wurde die Einstufung von COVID-19 als „Bedrohung für die Gesellschaft“ bereits im Januar 2022 aufgehoben. Damit ist seit dem 1. Februar 2022 die rechtliche Grundlage für alle inländischen Corona-Einschränkungen entfallen. In Frankreich endete am 31. Juli 2022 der Gesundheitsnotstand. Bis dahin konnte die Regierung ohne Einbindung des Parlaments Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie verhängen. Dies betrifft u. a. die Vorlage des digitalen Impfnachweises als Zutrittsberechtigung und die Maskenpflicht in Innenräumen und Verkehrsmitteln, die jetzt ohne parlamentarische Mehrheit nicht wieder eingeführt werden können. US-Präsident Joe Biden hat in einem Interview mit dem Fernsehsender „CBS“ am 18. September 2022 festgestellt, dass die Pandemie vorbei sei.
In Nordrhein-Westfalen werden verbindliche Infektionsschutzmaßnahmen in der Coronaschutzverordnung (CoronaSchVO) vorgegeben. Diese beinhaltet neben Empfehlungen (§ 2 CoronaSchVO) insbesondere eine Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln, in Obdachlosenunterkünften und in Einrichtungen zur gemeinschaftlichen Unterbringung von Asylbewerbern, vollziehbar Ausreisepflichtigen, Flüchtlingen und Spätaussiedlern (§ 3 CoronaSchVO) sowie eine Testpflicht für Einrichtungen zur gemeinschaftlichen Unterbringung von Asylbewerbern, vollziehbar Ausreisepflichtigen, Flüchtlingen und Spätaussiedlern und für Justizvollzugsanstalten, Abschiebungshafteinrichtungen und andere Abteilungen oder Einrichtungen außerhalb von Krankenhäusern, wenn und soweit dort dauerhaft freiheitsentziehende Unterbringungen erfolgen, insbesondere Heime der Jugendhilfe (§ 4 CoronaSchVO). Daneben wird in der Corona-Test-und-Quarantäneverordnung (CoronaTestQuarantäneVO) die Isolierung infizierter Personen geregelt. Positiv getestete Personen sind verpflichtet, sich für fünf vollständige Tage zu isolieren (§ 8 CoronaTestQuarantäneVO). Weitere Regelungen werden durch das Infektionsschutzgesetz des Bundes vorgegeben.
Für das Leben der meisten Menschen sind vor allem die Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln und die Isolationspflicht nach einem positiven Test relevant. Im November 2022 haben die Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein die Isolationspflicht für positiv getestete Personen aufgehoben und durch eine begrenzte Maskenpflicht sowie Empfehlungen ersetzt. Bayern und Sachsen-Anhalt haben im Dezember 2022 die Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln aufgehoben, nachdem eine Verständigung auf ein bundeseinheitliches Vorgehen nicht möglich war.
Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen hat eine Aufhebung der Isolationspflicht und der Maskenpflicht mehrfach abgelehnt. Angesichts der aufgezeigten Entwicklungen und dem Übergang von der Pandemie zur Endemie wäre es aber nicht mehr verhältnismäßig, die bestehenden verbindlichen Infektionsschutzmaßnahmen einfach nur weiter zu verlängern. Vielmehr müssten jetzt auch Eckpunkte und Kriterien für die Aufhebung von Maßnahmen der Coronaschutzverordnung und der Corona-Test-und-Quarantäneverordnung erarbeitet werden. Diese sollten dem Landtag so zeitnah vorgelegt werden, dass in der nächsten Sitzungswoche der weitere Umgang mit den verbindlichen Infektionsschutzmaßnahmen erörtert werden kann.
II. Beschlussfassung
Der Landtag fordert die Landesregierung auf, dem Landtag bis zum 15. Februar 2023 Eckpunkte und Kriterien für die Aufhebung der verbindlichen Infektionsschutzmaßnahmen der Coronaschutzverordnung und der Corona-Test-und-Quarantäneverordnung vorzulegen.