Das kleine A B C für eine kindgerechte Sprachförderung - NRW braucht ein ganzheitliches Konzept

I. Ausgangslage


Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends für die vierten Klassen der Primarstufe im vergangenen Herbst haben ein erdrückendes Bild des Abwärtstrends bei den Basiskompetenzen vieler Schülerinnen und Schüler aufgezeigt –sowohl im Bundestrend als auch für Nordrhein-Westfalen. Den Mindeststandard beim Lesen erreicht rund jedes fünfte Kind aus Nordrhein-Westfalen (21,6 Prozent) nicht. Bei insgesamt abgefallenem Kompetenzniveau haben es die Kinder aus sozial benachteiligten Familien, ebenso wie die mit Einwanderungsgeschichte, noch einmal deutlich schwerer, das erwartete Kompetenzniveau zu erreichen.

In diesem Schuljahr wurden in Nordrhein-Westfalen mehr als 150.000 Kinder eingeschult. Sie starten jedoch nicht alle mit denselben Chancen in ihre Schullaufbahn. Die Schulleitungsumfrage „Schule im Brennpunkt“des impaktlab der Wübben Stiftung Bildung lenkt besonderes Augenmerk auf die Schulen in benachteiligten Quartieren. Die Ergebnisse zeigen, dass 17,4 Prozent der dortigen Schülerinnen und Schüler keine Kita besucht haben. Im bundesweiten Durchschnitt gehen lediglich 8 Prozent der Kinder zwischen drei und sechs Jahren vor Schuleintritt nicht in eine Kindertagesstätte.

Kinder aus benachteiligten Quartieren haben einen besonders hohen Förderbedarf im Bereich der Sprachkompetenzen. Die befragten Schulleitungen gaben an, dass 75 Prozent der Schülerinnen und Schüler beim Schuleintritt eher großen bis sehr großen Unterstützungsbedarf mit Blick auf Sprachkompetenzen zeigen. Rund 74 Prozent der Schülerinnen und Schüler haben laut Befragung zudem eher großen bis sehr großen Unterstützungsbedarf bei den sozial-emotionalen Kompetenzen.

Gute sprachliche Fähigkeiten sind die Grundvoraussetzung für gelingende gesellschaftliche Teilhabe sowie für Erfolg im weiteren Bildungs- und Berufsleben. Junge Menschen ohne dieses Fundament laufen Gefahr, Brüche in ihrer Berufsbiografie zu erfahren. Wir Freien Demokraten sehen die dringende Notwendigkeit, mit früher individueller Förderung der Verantwortung nachzukommen, jedem Kind die Chance auf ein selbstbestimmtes und zufriedenes Leben zu geben. Dazu müssen möglichst viele Kinder, die besondere Förderbedarfe aufweisen, auch eine Kindertagesstätte besuchen.

Untersuchungen zeigen, dass es bildungsferne Familien deutlich schwerer haben, einen Kitaplatz zu bekommen. In der Versorgung mit ausreichend Kitaplätzen und insbesondere der Inanspruchnahme der Plätze durch bildungsferne Familien sehen die Studienverfasser einen wesentlichen Schlüssel zur Herstellung von Chancengerechtigkeit. Ein niedrigschwelliger Zugang zu einem Kita-Platz ist somit auch für die frühe Förderung von Sprachkompetenzen
unbedingt erforderlich.

Schulministerin Feller kündigte nun an, mit einem Screening die Sprachkompetenz von Kindern zu erfassen, bevor sie eingeschult werden. Sie plant, dieses Screening an die Schulanmeldung zu knüpfen. Bei der Erarbeitung dieses Screenings müsse ihr Haus die Kommunen und die Schulen beteiligen. Dies schilderte sie im Schulausschuss des Landtags am 17.05.2023. Sowohl in jener Ausschusssitzung als auch in der Pressekonferenz zum Schuljahresbeginn verdeutlichte Ministerin Feller, die Schulanmeldung sei der erste Zeitpunkt, auf den sie als Schulministerin einwirken könne.

Wenn es jedoch um die Sprachkompetenzen der Schulanfänger geht, dann ist es aus Sicht der Freien Demokraten zwingend erforderlich, dass das Ressort für die frühkindliche Bildung engmaschig eingebunden ist. Offenbar ist sich die Landesregierung keineswegs einig über eine notwendige Erfassung des Sprachstandes der Kinder und eine bindende Förderung bei der Feststellung von Defiziten. Anzeichen über Abstimmungsprobleme zwischen den Ministerien von Ministerin Feller und Ministerin Paul gab es schon vorher. So scheiterte bereits eine fehlerfreie Datenübermittlung der Zahl der Kinder, die vor der Einschulung auf ihre
Sprachfähigkeit getestet wurden.

Ein solch unabgestimmtes Regierungshandeln kann sich Nordrhein-Westfalen angesichts der hohen Bedeutung der frühen Sprachförderung nicht erlauben. Es ist zwingend erforderlich, dass schleunigst ein ressortabgestimmtes, ganzheitliches Konzept zur Förderung von Spracherwerb und Sprachkompetenz vorgelegt wird. Die frühkindliche Sprachförderung in Kindertageseinrichtungen spielt eine entscheidende Rolle bei der ganzheitlichen Entwicklung von Kindern. Sie bietet den jungen Lernenden nicht nur die Möglichkeit grundlegende sprachliche Fähigkeiten zu entwickeln, sondern legt auch den Grundstein für erfolgreiche Bildungs- und Sozialerfahrungen. Durch gezielte sprachliche Anregungen und interaktive Kommunikation werden nicht nur Vokabular und Grammatik erlernt, sondern auch kognitive Fähigkeiten, wie das logische Denken und die Problemlösung, gefördert.

Die Erfahrungen mit dem Deflin-4-Test haben verdeutlicht, dass eine über einen längeren Zeitraum kontinuierlich alltagsintegrierte Sprachbildung, begleitet durch Entwicklungs- und prozessbegleitende Beobachtungen, einer einmaligen Testsituation überlegen ist und auf eine größere Akzeptanz trifft. Um eine qualitativ hochwertige Sprachbildung zu gewährleisten, braucht es deshalb ausreichende finanzielle Mittel wie auch besonders geschultes Personal, das eine kindgerechte, individuelle Diagnostik und differenzierte Förderung gezielt vornehmen kann. Im besten Fall arbeiten daher multiprofessionelle Teams an der ganzheitlichen
Förderung jedes einzelnen Kindes. Ungeachtet dessen müssen Kinder, die keine Kindertagesstätte besuchen, ohnehin vor der Einschulung die Sprachstandsfeststellungen durchlaufen.

Bei dem von Ministerin Feller vorgestellten Vorschlag bleiben daher viele Fragen offen: Wer stellt etwa den Förderbedarf hinsichtlich der Sprachkompetenz fest? Kann und soll das Screening bei der Schulanmeldung bereits bindenden Charakter bekommen oder soll bei der Schulanmeldung ein Verweis an zuständige Stellen erfolgen? Wie soll eine verpflichtende Förderung schließlich umgesetzt werden? Wie wird sich verhalten, wenn es zu einer Feststellung eines Förderbedarfs beim neuen Screening kommt, obwohl dieser in der Kindertagestätte nicht festgestellt wurde?

Wir Freien Demokraten sind der Ansicht, dass die Erzieherinnen und Erzieher in den Kindertageseinrichtugen die Bedarfe der Kinder bereits sehr gut ermitteln. Dringende Unterstützung benötigen sie aber mit Blick auf die finanziellen Ressourcen und zusätzliches Personal, um gezielte Förderung zu leisten. Für Kinder, die keine Kita besuchen, braucht es ein breites Angebot an externer Förderung sowie Therapieplätze zur Sprachentwicklung. Durch das Kita-Qualitätsgesetz der Bundesregierung werden im Bereich zur Förderung der sprachlichen Bildung finanzielle Mittel bereit gestellt. Es ist gut, dass die Landesregierung sich vertraglich verpflichtet hat, die Mittel für dieses Handlungsfeld zu nutzen. Trotzdem dürfen die eigenen Bemühungen des Landes nicht zurückgefahren werden. Mit den Sprach-Kitas wie auch dem Förderprogramm plusKitas bestehen Grundlagen, die weiter ausgebaut werden müssen.

Um die frühkindliche Entwicklung ganzheitlich zu unterstützen, ist es essenziell, dass das Land gezielte zusätzliche Maßnahmen zur Förderung motorischer Fähigkeiten, ausreichende Bewegung sowie Koordinations- und Konzentrationsfähigkeit etabliert. Diese Aspekte sind von großer Bedeutung, da sie die Sprachförderung auf sinnvolle Weise ergänzen. Eine gesunde körperliche Entwicklung legt nicht nur den Grundstein für motorische Kompetenzen, sondern
beeinflusst auch positiv die kognitiven Prozesse und die Aufnahmefähigkeit für sprachliche Inhalte. Mithilfe einer ganzheitlichen Förderung wird somit ein solides Fundament geschaffen, das die umfassende Entwicklung der Kinder in Kindertageseinrichtungen nachhaltig unterstützt.

Die bislang vorgestellten Maßnahmen der Landesregierung zeugen jedoch von einem isolierten Verständnis von Sprachförderung und damit auch von Bildungspolitik. Anstelle doppelter Strukturen bei der Diagnostik braucht es einen ganzheitlichen, dynamischen und differenzierten Ansatz der Förderung von Sprachkompetenz von Beginn an. Wenn in die Bildung in der Kita investiert wird, muss im späteren Schulsystem nicht unter hohem Ressourcenaufwand korrigiert werden. Die zuständigen Ressorts müssen auf Basis dieser Annahme zusammenarbeiten.

II. Beschlussfassung

Der Landtag stellt fest:

  • Sprache ist die Grundlage für das Lernen in der Grundschule.
     
  • Immer mehr Grundschülerinnen und Grundschüler verfügen nicht über ausreichende Kompetenzen im Lesen und Schreiben.
     
  • Bezüglich ihrer Sprachkompetenz weisen die Kinder an Schulen in benachteiligten Quartieren bereits beim Schuleintritt große Defizite auf.
     
  • Für den Erfolg der Bildungslaufbahn braucht es einen ganzheitlichen Ansatz bei der sprachlichen Förderung, der die frühkindliche Bildung miteinbezieht und hier konkret ansetzt.
     
  • Die Landesregierung kann kein ressortübergreifendes Konzept zur Sprachförderung in der frühkindlichen Bildung und Schule vorweisen.
     
  • Die ganzheitliche Förderung der Kinder scheitert aktuell an Ressortgrenzen.
     
  • Doppelstrukturen in der Diagnostik sind kein adäquates Mittel zur Verbesserung der Situation.
     
  • Statt Erzieherinnen und Erziehern Kompetenzen der Begutachtung zu entziehen müssen diese gestärkt werden.
     
  • Entsprechend muss auch die alltagsintegrierte Sprachförderung weiter forciert und gestärkt werden.


Der Landtag fordert die Landesregierung auf,

  • ein ganzheitliches Konzept zur Sprachförderung bei Kindern beginnend bei der frühkindlichen Bildung zu erstellen und dabei den Fokus auf die alltagsintegrierte Sprachbildung zu legen.

o Diese muss mit ausreichend finanziellen und personellen Ressourcen hinterlegt sein.

o Hierzu müssen Sprach-Kitas eine gesetzliche Verankerung im Kinderbildungsgesetz erhalten und damit ihre Finanzierung sicher gestellt werden.

o Die Förderung von „plusKitas“in Nordrhein-Westfalen muss erweitert werden, wodurch jeder bestehenden „Sprach-Kita“ein nahtloser Übergang in dieses Förderungsmodell ermöglicht wird. Das Landeskonzept „plusKita“sollte dazu angepasst werden, um eine harmonische Integration der aktuellen Ziele des Programms „Sprach-Kita“zu gewährleisten.

o Dokumentation im Zuge der alltagsintegrieten Sprachbildung muss vollständig
digitalisiert werden.

  • sicherzustellen, dass auch im Rahmen der Schuleingangsuntersuchung zukünftig allen Kindern rechtzeitig vor Beginn ihrer Schullaufbahn eine zuverlässige Diagnostik mit evtl. sich anschließender Förderung zuteilwird.
     
  • darüber hinaus zusätzliche Therapieplätze für die Sprachförderung zu finanzieren.
     
  • ein Landesinstitut für frühkindliche Sprachbildung zu schaffen, welches die alltagsintegrierte Sprachbildung weiterentwickelt und Angebote zur Fort- und Weiterbildung schafft.
     
  • die ganzheitliche Kindertagesbetreuung zu stärken und weiterhin den Einsatz von Fachkräften aus der Logopädie, Ergotherapie sowie von ausgebildeten Musik- und Theaterpädagoginnen und -pädagogen in Kitas ermöglichen.
     
  • ein Qualifizierungsprogramm Sprachförder-Erzieher aufzulegen.