Die Gestaltung des offenen Vollzugs darf den Zweck der Strafe nicht aushöhlen
I. Ausgangslage
Ziel der Bestrafung von Tätern ist sowohl die Spezialprävention als auch die Generalprävention. Auch das Vertrauen der Gesellschaft in die Rechtsordnung und deren Wiederherstellung ist Zweck der Strafe. Die Allgemeinheit erwartet, dass ein Täter gerecht bestraft wird. Um den Zielen des Strafzwecks gerecht zu werden, gehört auch eine angemessene Verbüßung der Strafe. § 7 StVollzG NRW bestimmt zudem, dass die berechtigten Belange der Opfer bei der Gestaltung des Vollzuges zu berücksichtigen sind.
Der Föderalismus hat 16 Landesstrafvollzugsgesetze mit unterschiedlichen Vorschriften zur Gestaltung des Vollzugs neben dem Bundesgesetz hervorgebracht. Die Gestaltung des Vollzugs und damit die Entscheidung über die Anordnung des offenen Vollzugs liegt nach dem Gesetz zur Regelung des Vollzuges der Freiheitsstrafe in Nordrhein-Westfalen (StVollzG NRW) bei den Haftanstalten. Die Staatsanwaltschaft bleibt außen vor, sie hat keine Möglichkeit der Einflussnahme.
In Nordrhein-Westfalen bestimmt § 12 I 1 StVollzG NRW: “Die Gefangenen werden im geschlossenen oder offenen Vollzug untergebracht.” Satz 2 der Vorschrift lautet: “Sie [Gefangene] sollen in einer Anstalt oder einer Abteilung des offenen Vollzuges untergebracht werden, wenn dies verantwortet werden kann, sie namentlich den besonderen Anforderungen des offenen Vollzuges genügen und nicht zu befürchten ist, dass sie sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die besonderen Verhältnisse des offenen Vollzuges zur Begehung von Straftaten missbrauchen werden.”
Der offene Vollzug sei eine bedeutende Behandlungsmaßnahme, so der Sprecher der Justizvollzugsdirektion Nordrhein-Westfalen und damit ein tragender Eckpfeiler der nordrhein-west-fälischen Resozialisierungsbemühungen. Andere Bundesländer wie Hessen und Bayern betonen hingegen in ihren Ländergesetzen zum Strafvollzug den Vorrang der Unterbringung im geschlossenen Vollzug. Dort ist ausdrücklich bestimmt, dass die Gefangenen grundsätzlich im geschlossenen Vollzug untergebracht werden.
Der Strafvollzug in Nordrhein-Westfalen ist bundesweit für die großzügige Gewährung des offenen Vollzugs bekannt. Mit einer Quote von 32 Prozent liegt der offene Vollzug weit über den einstelligen Prozent-Raten der anderen Länder. Sechs- bis zehnmal mehr Gefangene sind in Nordrhein-Westfalen im offenen Vollzug untergebracht als in Bayern, Hessen, Sachsen, Sachsen-Anhalt oder Thüringen. Es ist in Nordrhein-Westfalen nicht ungewöhnlich, dass ein zu über zehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilten Drogendealer bereits nach 18 Monaten aus dem geschlossenen Vollzug in den offenen Vollzug wechselt. Auch ein zu fünf Jahren und sechs Monaten wegen Betrugs mit einem Vermögensschaden in Höhe von sechs Millionen Euro verurteilter Täter konnte seine Strafe schon nach acht Monaten im offenen Vollzug verbüßen. Ein weiterer Betrüger kam nach seiner Verurteilung zu vier Jahren und acht Monaten zunächst für sechs Monate auf freien Fuß. Unmittelbar nach Haftantritt wurde er im offenen Vollzug untergebracht. 14 Monate später, nach Verbüßung der Hälfte seiner Strafe, wurde er aus der Haft entlassen.
Das Ministerium der Justiz Nordrhein-Westfalen äußert sich zu dem weit überdurchschnittlich häufig angeordneten offenen Vollzug dahingehend, dass Ziel des Strafvollzuges nicht Vergeltung und Sühne, sondern die Resozialisierung sei. Das sei modern, so der Justizminister. Nun ist die Resozialisierung des Strafgefangenen ein sehr wichtiger Grundgedanke des Strafvollzugs. Allerdings darf eine starke Gewichtung des Resozialisierungsgedankens nicht zu einer Aushöhlung des Zwecks der Strafe führen. General- und Spezialprävention sowie das Vertrauen der Gesellschaft in die bestehende Rechtsordnung müssen trotz Maßnahmen zur Resozialisierung gewahrt werden. Die abschreckende Wirkung für den Täter und die Allgemeinheit, die mit der Strafe verfolgt wird, droht im „modernen“ Strafvollzug in Nordrhein-Westfalen ihre Wirkung zu verlieren. Das Vertrauen in die Rechtsordnung wird durch diese Fälle erheblich gestört.
Möglicherweise steht hinter der hohen Quote der Unterbringung im offenen Vollzug nicht nur der Resozialisierungsgedanke. Auch die Überfüllung der Justizvollzugsanstalten in Nordrhein-Westfalen und der entsprechende Kostenfaktor könnten eine Rolle spielen. Die Landesregierung teilte auf Anfrage keine Zahlen zu den unterschiedlichen Kosten eines Häftlings im offenen und geschlossenen Vollzug mit.Tatsächlich erfordert der offene Vollzug weniger Personal zur Betreuung tagsüber. Der allgemein bekannte Personalnotstand im Strafvollzug könnte Unterbringungen im offenen Vollzug zu einem frühen Zeitpunkt der Haftstrafe befördern. Sach-fremde Erwägungen sollten jedoch nicht die Grundlage der Gestaltung des Vollzuges bilden.
Im Beispiel des verurteilten Drogendealers hält die Staatsanwaltschaft die Entscheidung der Anstaltsleitung für falsch , ihr fehlt jedoch jegliche Handhabe, um dagegen vorzugehen. Daher wird die Beteiligung der jeweiligen Staatsanwaltschaft an der Entscheidung über den Wechsel vom geschlossenen in den offenen Vollzug gefordert. Aufgrund der langen Ermittlungsarbeit und der Verfahrensdauer sind Staatsanwälte in der Lage, sich ein Bild vom Täter zu machen. Ebenso erwerben sie durch ihre Tätigkeit einen Eindruck von den Opfern der Straftat. Das befähigt sie, bei einer Entscheidung über die Vollzuggestaltung die Aspekte des Strafzwecks angemessen zu berücksichtigen.
Die hohe Quote der Unterbringung von Straftätern im offenen Vollzug führt zudem zu einem allgemein bekannten Phänomen, das unter Staatsanwälten als „Vollzugstourismus“ bezeichnet wird. Der deutlich schnellere Wechsel vom geschlossenen in den offenen Vollzug in Nordrhein-Westfalen hat sich in Deutschland herumgesprochen. Um hier die Strafe zu verbüßen, reicht die Verlegung des Wohnsitzes von Hessen nach Nordrhein-Westfalen kurz vor oder nach der Urteilsverkündung. Denn Straftäter sollen ihre Strafe in der Nähe ihres Wohnortes verbüßen. Laut Berichterstattung erhalte ein Strafverteidiger immer wieder Anfragen verurteilter Straftäter aus anderen Bundesländern und rate ihnen, den Wohnsitz in Nordrhein-Westfalen zu nehmen. Von einer „Gerechtigkeitslücke“ ist nach der Berichterstattung bei den Staatsanwälten die Rede und von Straftätern, die „unerträglich schnell wieder auf die Straße dürfen“.
Die Aussage der Landesregierung, ein „Strafvollzugstourismus nach Nordrhein-Westfalen“ sei nicht feststellbar, ist gegenüber diesen Aussagen nicht überzeugend. Sie verweist in diesem Zusammenhang auf eine Frage der FDP-Landtagsfraktion zu Wohnsitzverlagerungen vor oder nach der Urteilsverkündung, ohne sie zu beantworten. Es erfolgte lediglich der Hinweis, dass keine einheitlichen Statistiken vorliegen und Anstaltsleitungen keine Anhaltspunkte zu Verlegungen des Wohnsitzes sähen. Wer ohne Kenntnis von Zahlen das Phänomen der Scheinwohnsitze verneint, zeigt sich planlos und gleichgültig.
Zur Eindämmung des „Vollzugstourismus“ sollten die Vorschriften über die Gestaltung des offenen Vollzugs, insbesondere die Regelungen über die zu verbüßende Haftdauer und die Mindestverbüßungsdauer im geschlossenen Vollzug, an die Gesetze der anderen Bundesländer angepasst werden. Dementsprechende Vorgaben sind in der Vollzugsgesetzgebung in Nordrhein-Westfalen bisher nicht geregelt. Die Entscheidung über den offenen Vollzug liegt
allein im Ermessen der Haftanstalt.
II. Beschlussfassung
Der Landtag fordert die Landesregierung auf,
- der Staatsanwaltschaft gesetzlich ein Beteiligungsrecht vor der Entscheidung der Haftanstalt über die Anordnung des offenen Vollzugs einzuräumen.
- die Regelungen in dem StVollzG NRW über die Gestaltung des Vollzuges an die Vor-schiften der anderen Bundesländer anzupassen, um keinen Anreiz für einen Zuzug in den Strafvollzug nach Nordrhein-Westfalen zu geben.