Die NRW-Justiz nach drei Jahren Schwarz-Grün: Mangelverwaltung führt zu zunehmendem Verlust an Rechtsstaatlichkeit
I. Ausgangslage
Die Situation ist unverändert, Entspannung ist nicht in Sicht. Egal, um welchen Bereich es in der Justiz geht, die Kritik an den unzulänglichen Verhältnissen und damit auch an der Leistungsfähigkeit der Staatsanwaltschaft und Gerichte reißt nicht ab. Auch die Anhörung des Rechtsausschusses zum Thema „Mehr Wertschätzung für die Justiz“ im April 2024 hat ergeben, dass Handlungsbedarf besteht, der jedoch vom Justizminister nicht gesehen und teilweise von der Koalition geleugnet wird.
Der Zustand bei der Staatsanwaltschaft 2025
Der deutsche Richterbund spricht im Juni 2025 von einem Justizkollaps. Nach seinen Angaben fehlen derzeit bundesweit über 2.000 Staatsanwälte und Strafrichter. Die Folge sind lange Strafverfahren und häufigere Einstellungen der Ermittlungen wegen Verjährung. Bei den Staatsanwaltschaften stapeln sich bundesweit mittlerweile fast eine Million unbearbeitete Fälle.
In einem Brandbrief kritisiert der Bund der Richter und Staatsanwälte bereits im Mai 2024, in Nordrhein-Westfalen mangele es an ca. 400 Staatsanwälten. Ebenso äußerte sich der Vorsitzende des Deutschen Richterbunds NRW, Gerd Hamme, im Frühjahr 2025. Das vorhandene Personal im Bereich der Staatsanwaltschaften reiche nicht aus, „um die Verfahren so gründlich und schnell zu bearbeiten, wie es in einem gut funktionierenden Rechtsstaat erforderlich ist“ . Er beruft sich auf Zahlen des NRW-Justizministeriums. Demnach lag Ende 2024 der Bedarf bei 1.813 Staatsanwälten, tatsächlich habe es jedoch nur 1.575 Staatsanwälte gegeben, es fehlten 238 neue Stellen.
Die Maßnahme der Landesregierung, die Staatsanwaltschaften durch die Abordnung von Richtern zu verstärken, ist reine Mangelverwaltung, Probleme werden dadurch nicht grundsätzlich gelöst. Hinzu kommen vermehrte Anzeigen wegen Hass und Hetze, zunehmende Hinweise auf Kinderpornografie und ein sprunghafter Anstieg von Ermittlungsverfahren wegen der gesetzlichen Neuregelungen gegen Geldwäsche sowie der zusätzliche Bedarf an Staatsanwälten zur Bearbeitung der Cum-Ex und Cum-Cum Geschäfte.
Der Zustand bei den Verwaltungsgerichten / Besoldungsklagen 2025
Die Zahl der Besoldungsklagen schnellt ebenfalls 2025 in die Höhe. Nachdem das Land die von seinen Bediensteten für das Jahr 2022 eingelegten Widersprüche wegen verfassungswidrig zu niedriger Besoldung als unbegründet, abschlägig beschieden hat, rollt derzeit eine Klageflut auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit des Landes Nordrhein-Westfalen zu. Laut Informationen des Landesamtes für Besoldung und Versorgung (LBV) sind schon ca. 2.000 Klagen bei den zuständigen Verwaltungsgerichten in NRW eingegangen.
Die jüngste Gesetzesänderung zur Anpassung der Beamtenbezüge in den Jahren 2024 und 2025 in Nordrhein-Westfalen sorgt nicht nur im öffentlichen Dienst, sondern auch unter Verfassungsrechtlern zu Diskussionen. Ein Rechtsgutachten des früheren Bundesverfassungsrichters Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio stuft die derzeitige Besoldungsregelung in Nordrhein-Westfalen als nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ein. Beanstandet wird vor allem die Berechnungsmethode der Anpassungen, indem ein angenommenes Einkommen des Partners des Beamten einbezogen wird. Auf diese Weise werde der verfassungsrechtlich vorgeschriebene Abstand zur Grundsicherung, insbesondere bei kinderreichen Beamten in den Besoldungs-gruppen 5 und 6 nicht eingehalten. Die Kritik von Verfassungsrechtlern, dem DBB NRW und dem DRB NRW richtet sich darauf, dass eine angemessene Alimentation erst durch ein Tätigwerden des Beamten erreicht werden könne.
Die zu niedrige Besoldung der Richter und Staatsanwälte hat auch die EU angemahnt. In ihrem Bericht vom Jahr 2023 zur Rechtsstaatlichkeit kritisiert sie zu geringe Fortschritte bei der Richterbesoldung. Das betrifft auch Nordrhein Westfalen wie unter anderem in der Anhörung des Rechtsausschusses vom 14. Mai 2024 deutlich wurde. Im Ländervergleich bildet Nord-rhein-Westfalen zusammen mit dem Saarland und Sachsen-Anhalt das Schlusslicht bei der Besoldung junger Richter und Staatsanwälte.
Der Zustand bei den Verwaltungsgerichten / Asylverfahren 2025
Die schnellere Bearbeitung von Asylverfahren beim Bundesamt für Migration und die gestiegene Anzahl abgelehnter Asylbescheide führen zu deutlich mehr Verfahren an den Verwaltungsgerichten. Nordrhein-Westfalen verzeichnet die höchste Anzahl aller Bundesländer. 19.267 Asylverfahren sind von den Verwaltungsgerichten zu bearbeiten. Mit deutlich weniger Verfahren liegt Bayern auf dem zweiten Platz (15.278) und Baden-Württemberg auf dem dritten (12.755) Platz. Die Laufzeiten betragen in Nordrhein-Westfalen bis zu 24 Monate. Neben einer weitergehenden Konzentration der Verfahren bei spezialisierten Asylkammern sind vor allem weitere Richter nötig, um Asylklagen zu beschleunigen.
Der Zustand bei den Zivilgerichten 2025
Auch im Bereich der Zivilgerichtsbarkeit besteht Handlungsbedarf. Während in den letzten Jahren zwar immer weniger Klagen bei den Zivilgerichten eingingen, wurden die Klageschriften durch den Einsatz von KI komplexer und die Schriftsätze länger. Laut Mitteilung des Bundesjustizministeriums sind von 2005 bis 2019 die Neuzugänge bei den Amtsgerichten um etwa 36 Prozent und bei den Landgerichten um rund 21 Prozent zurückgegangen. Eine wissenschaftlich fundierte Erklärung für diese Abwärtsrichtung liegt vor.9 Allerdings wird darauf hingewiesen, dass bei Prozessen im Zusammenhang mit Masseschäden, wie dem „Diesel-Skandal“, ausufernd umfangreiche „zusammengestückelte“ und nicht auf den individuellen Fall aus-gerichtete Klageschriften mit extrem langen Anlagen eingereicht werden. In einem Fall umfasste eine vor dem Amtsgericht erhobene Klage inklusive Anlagen 299 Seiten. Auf den Komplex Dieselskandal entfielen insgesamt zehn Prozent aller Klagen vor der Zivilkammer im Jahr 2019. Nach weiteren fünf Jahren hat sich die Anwendung von KI derart verändert, dass die Zivilgerichte immer mehr mit sehr umfangreichen Schriftsätzen als „Zeitfresser“ befassen müssen. Zu glauben, die Anzahl der Zivilrichter sei ausreichend, ist somit ein Trugschluss. Die weitere Entwicklung ist nicht abzusehen.
Der Zustand der Justizverwaltung und der Nachwuchsgewinnung 2025
In der Anhörung des Rechtsausschusses im Mai 2024 bestätigten die Sachverständigen die Nachwuchsgewinnung als bedeutende Maßnahme für eine funktionierende Justiz. Benötigt würden 400 Auszubildende im gehobenen Dienst und 1000 im mittleren Dienst. Die Reduzierung der Anzahl der Referendarplätze wird als großer Fehler betrachtet. Es werden mehr Rechtsreferendare benötigt und nicht weniger. Die Entwicklungsperspektiven für angehende Richter seien zu gering, 50 Prozent blieben im R1 verhaftet. Gefordert wurde ferner eine Verbesserung der Besoldung durch höhere Einstufung, um das Abwerben junger Kollegen zu verhindern. Die Grundbesoldung für Richter und Staatsanwälte müsse deutlich erhöht werden. Es sei erstaunlich, dass die Landesregierung auf den EU-Bericht zur Rechtsstaatlichkeit von 2023 nicht reagiert habe.
Die Sachverständigen betonten zudem die Überlastung der Geschäftsstellen. Die Folge sei ein zu hoher Krankenstand mit Mehrarbeit für die anderen. Häufig legten die über Stunden anhaltenden IT-Ausfälle die Arbeit lahm. Im Übrigen schrecke die allgemein fehlende Digitalisierung junge Leute ab. Nicht zuletzt beanstandeten die Sachverständigen die unattraktiven Gebäude, veraltete Ausstattung und Probleme mit der Reinigung.
Ohne eine flächendecke Digitalisierung und mehr Personal wird es keine Fortschritte bei der Justiz geben, in keinem Bereich. Darunter leiden nicht nur die Beschäftigten, sondern auch das Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat. Fälle wie die Entlassung eines Drogendealers aus der Untersuchungshaft trotz Verurteilung zu einer zehnjährigen Haftstrafe lassen den Glauben an eine funktionierende Rechtsordnung erodieren. Wegen fehlendem Personal wurde das Urteil nicht rechtskräftig, weil es dem Täter nicht zugestellt worden ist.
Das Problem zu erkennen ist das eine. Es beheben zu wollen das andere. Gerade die starke Reduzierung der Einstellungen der Rechtsreferendare zeigt, dass die Landesregierung trotz ständiger öffentlicher Aufforderungen, Brandbriefe und anderer Hilferufe die Erkenntnis haben muss, aber nicht den Willen zur Abhilfe hat. Wer den Mangel verneint, muss ihn auch nicht beheben.
II. Beschlussfassung
Die Landesregierung wird beauftragt,
- im Justizbereich eine funktionierende Einstellungsoffensive in allen Bereichen der Justiz vorzunehmen, um die dort herrschende Mangelverwaltung zu beseitigen,
- die Reduzierung der Referendarplätze für 2026 zurückzunehmen und Referendare nach dem Vorbild des Jahres 2023 einzustellen,
- die Besoldungen der Justizjuristen und aller 28 Justizberufe auf ein attraktives Niveau anzuheben, um im Wettbewerb bestehen zu können,
- die Besoldungspolitik hinsichtlich der 28 Justizberufe verfassungskonform zu gestalten.