Die Zuständigkeit des Landes Nordrhein-Westfalen für den Katastrophenschutz

Bei Notfällen in Atomkraftwerken (AKW) mit Freisetzung von radioaktiven Stoffen hängt die Ausbreitung der radioaktiven Wolke und die Kontamination der Umwelt maßgeblich von den Freisetzungsbedingungen und den vorherrschenden Wetterbedingungen ab. Das Ausmaß einer möglichen Kontamination bzw. die Wahrscheinlichkeit für eine aus Sicht des Strahlenschutzes relevante Kontamination nimmt im Allgemeinen mit wachsendem Abstand vom Freisetzungsort ab. Auf Basis von Gefährdungsanalysen für schwere AKW-Unfälle empfiehlt die Strahlenschutzkommission (SSK) Maßnahmen des Katastrophenschutzes (d.h. insbesondere die Schutzmaßnahmen Evakuierung, Aufforderung zum Aufenthalt in Gebäuden und Jodblockade) in folgenden Abständen (Zonen), um deutsche und grenznahe ausländische AKW mit unterschiedlichen Planungsvorgaben vorzubereiten:

  • Zentralzone (bis 5 km): Evakuierung, Aufforderung zum Aufenthalt in Gebäuden, Jodblockade
  • Mittelzone (bis 20 km): Evakuierung, Aufforderung zum Aufenthalt in Gebäuden, Jodblockade
  • Außenzone (bis 100 km): Aufforderung zum Aufenthalt in Gebäuden, Jodblockade
  • Gesamtes Staatsgebiet: Jodblockade für Personen unter 18 Jahren und Schwangere

Radiologische Kriterien für sonstige Schutzmaßnahmen können jedoch in deutlich größeren Entfernungen erreicht bzw. überschritten werden. Nach Gefährdungsanalysen des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS) besteht bei möglichen Reaktorunfällen in ausländischen AKW in beispielsweise 1.500 km Entfernung eine nicht vernachlässigbare Wahrscheinlichkeit dafür, dass in Deutschland beispielsweise radiologische Kriterien für notfallbedingt kontaminierte Lebensmittel (Höchstwerte nach Verordnung 2016/52/Euratom) überschritten würden, wie dies nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl geschehen ist.

Tihange liegt 64,62 km von der Städte-Region Aachen, 82 km von Heinsberg und 100 km von Euskirchen entfernt.

In einer Stellungnahme der Ministerien im Land Nordrhein-Westfalen für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie sowie für Umwelt, Naturschutz und Verkehr vom 23. Juni 2021 (Aktenzeichen: 01.01.03/01-2020/7933), gerichtet an die belgische „Division Nuclear Applications“ in Brüssel, die im Rahmen einer grenzüberschreitenden Umweltverträglichkeitsprüfung abgegeben wurde, heißt es auf Seite zwei, dass im Falle eines Reaktorunfalles der Kategorie INES 7 am Standort Doel bei Annahme einer durchschnittlichen Wetterlage die radioaktiven Luftmassen nach den Berechnungen beider Ministerien bereits nach sechs Stunden das Land Nordrhein-Westfalen erreichen und zu Kontaminierungen führen können.

Vor diesem Hintergrund frage ich die Landesregierung:

  1. Mit Blick auf die Stellungnahme der beiden Ministerien des Landes Nordrhein-Westfalen stellt sich die Frage, wie der nordrhein-westfälische Katastrophenschutz auf solche Ereignisse innerhalb der ersten sechs Stunden ganz konkret auf Kreis-, Bezirks- und Landesebene reagieren kann?
  2. Sind im Falle einer Katastrophe innerhalb der jeweiligen Kreise die Voraussetzungen für eine Jodblockade gegeben?
  3. Nach welchen festen Kriterien und Planungen warnen die zuständigen Behörden im Falle eines radioaktiven Störfalles die Bevölkerung in Nordrhein-Westfalen?
  4. Welche Ausweisflächen sind im Falle einer Evakuierung von Teilen der Bevölkerung im Rahmen der 100-Kilometer-Zone nach der vorhandenen Katastrophenschutzplanung der Landesregierung zur Unterbringung der zu evakuierenden Bevölkerung vorgesehen?
  5. Welche Maßnahmenpläne, insbesondere mit Blick auf Straßenverkehrslenkung- und Leitung, liegen im Falle eines Unfalles in einem AKW für eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit vor, falls die belgische Bevölkerung über die Grenze nach Nordrhein-Westfalen flieht?

Dr. Werner Pfeil