Durch die Kita zur Schulfähigkeit – Bildungsgrundsätze weiterentwickeln und als Bildungsstandards etablieren

I. Ausgangslage

Der Übergang aus der Kindertagesstätte (Kita) in die Grundschule ist ein wichtiger und bedeutender Schritt für ein Kind und seine Eltern. In Nordrhein-Westfalen sind aber immer mehr Kinder nicht schulreif, haben unter anderem im sozial-emotionalen Bereich Defizite und sind motorisch und sprachlich nicht auf dem benötigten Einschulungsniveau. Zum Schuljahr 2019 wurden nach den Schuleingangsuntersuchungen noch 3.218 Zurückstellungen ausgesprochen, während die Zahl 2023 bereits auf 5.695 anstieg – ein Zuwachs von rund 77 Prozent innerhalb von vier Jahren. In manchen Städten und Kreisen im Bergischen Land hat sich die Anzahl der Kinder, die eine Rückstellungsempfehlung erhalten haben, und deshalb nicht eingeschult werden, innerhalb der letzten fünf Jahre verdoppelt. In Gelsenkirchen haben zum Start ins Schuljahr 2023/2024 rund 90 Prozent der neuen Schulkinder Defizite. Insbesondere im Feld der sprachlichen Kompetenzen zeigt sich ein bedenklicher Trend. So wurden landesweit bei fast einem Drittel aller untersuchten Fünf- und Sechsjährigen (32,2 Prozent) Defizite bei der deutschen Sprachkompetenz festgestellt. Wie schwer es im Verlauf ist, Defizite aufzuholen, zeigen die Ergebnisse von Grundschülerinnen und Grundschülern in Nordrhein-Westfalen bei der internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) und in Folge bei Schülerinnen und Schülern beim IQB-Bildungstrend. Es wird deutlich, dass es eine qualitative Förderung in den Kitas bedarf, um die Schulfähigkeit herzustellen.

Ohne Zweifel ist die frühkindliche Phase die wichtigste Zeit zum Lernen. Die Bildungschancen eines Kindes entwickeln sich nicht erst in der Schulzeit, sondern werden maßgeblich in der frühen Förderung angelegt. Zahlen zeigen: Kinder aus wohlhabenderen Familien verfügen im Alter von drei Jahren über einen doppelt so großen Wortschatz und zeigen ein deutlich besseres Verständnis für Zahlen und Formen als Kinder aus ärmeren Verhältnissen. Bis zur Einschulung vergrößern sich diese Unterschiede auf bis zu drei Entwicklungsjahre. Am Ende der Grundschule erreicht ein Viertel der Schülerinnen und Schüler die Mindeststandards in Lesen und Rechnen nicht – besonders betroffen sind dabei Kinder aus Familien mit Einwanderungsgeschichte.

Immer mehr Kinder wachsen mehrsprachig auf. Der Anteil der Kita-Kinder in Deutschland, die zu Hause überwiegend nicht deutsch sprechen, nimmt stetig zu. Spätestens mit dem Schuleintritt müssen diese Kinder aber genügend Deutschkenntnisse aufweisen, um dem Unterricht folgen zu können. Im Jahr 2023 haben 25 % der 3-jährigen Kinder in Deutschland zu Hause nicht überwiegend deutsch gesprochen, bei den unter 3-Jährigen ist der Anteil auf 17 % gestiegen.

Im NRW-Landesschnitt liegt der Anteil der Kita-Kinder, die zu Hause nicht überwiegend deutsch sprechen, bei rund 30%. In manchen Kitas ist dieser Anteil jedoch sehr viel höher.  Für die Sprachförderung und das Erreichen der Schulfähigkeit ergeben sich daraus besondere Herausforderungen.

Es war ein richtiger Schritt der letzten Landesregierung, eine Rückstellung für die Kinder zu vereinfachen, die noch nicht schulfähig sind. Dennoch muss es gemeinsames Ziel sein, die Kinder in Nordrhein-Westfalen so zu fördern, dass sie zum Einschulungsstichtag eingeschult werden und erfolgreich am Unterricht teilnehmen können. Insbesondere die Kita kann dabei helfen, bestehende Nachteile zumindest teilweise auszugleichen. In der Fachsprache spricht man hierbei von „kompensatorischer Bildung“. Kinder aus benachteiligten Familien, die in der Kita regelmäßig zählen, zeigen beispielsweise am Ende der zweiten Klasse bessere Mathematikleistungen. Auch eine gezielte alltagsintegrierte Sprachförderung in der Kita erweist sich als äußerst wirkungsvoll. Erzieher und Erzieherinnen, die jede Gelegenheit – ob beim Wickeln, Anziehen oder während der Mahlzeiten – nutzen, um mit den Kindern zu sprechen, tragen erheblich zur Sprachentwicklung bei.

Auch mit der kompensatorischen Bildung kommt die Kita der Auftrag der Schulfähigkeit nach. Kinder, unabhängig von ihrem Hintergrund, müssen in der Kita auf die Schule vorbereiten werden.

Beitrag der frühkindlichen Bildung: Schulfähigkeit

Frühkindliche Bildung fördert nicht nur kognitive und sprachliche Kompetenzen, sondern auch soziale, emotionale und motorische Fähigkeiten. In dieser frühen Phase entwickeln Kinder grundlegende Fertigkeiten, die ihnen helfen, die Welt zu verstehen und aktiv an ihr teilzunehmen. Durch spielerische und altersgerechte Lernprozesse erwerben sie Selbstvertrauen, Kreativität und die Fähigkeit zur Problemlösung. Dabei sind ein wertschätzendes Umfeld und die Unterstützung durch Erwachsene essenziell, um die Kinder in ihrer Neugier zu fördern und sicherzustellen, dass sie ihre individuellen Potenziale entfalten können. Ein ganzheitlicher Bildungsansatz in den ersten Lebensjahren schafft die Voraussetzungen für ein erfolgreiches Lernen und eine positive Persönlichkeitsentwicklung. Dabei müssen auch die notwendigen Kompetenzen verbindlich vermittelt werden, die einen möglichst reibungslosen Übergang in die Primarstufe ermöglichen.

Das europäische Ausland zeigt, wie Vorschulen mit obligatorischen Lehrplänen aussehen können und strukturiertes Lernen auch in der frühkindlichen Bildung seinen Platz hat. Auch in Nordrhein-Westfalen müssen nun Veränderungen angestoßen werden, damit Kitas gezielter Vorläuferkenntnisse vermitteln können, wie zum Beispiel das Erkennen von Buchstaben und das Zählen bis zwanzig. Vor allem aber müssen die Kinder beim Eintritt in die Schule die Bildungssprache Deutsch so gut beherrschen, dass sie dem Unterricht folgen und dann lesen und schreiben lernen können.

Sprachförderung als zentrales Instrument stärken

Die alltagsintegrierte Sprachförderung und die konsequente Nutzung der deutschen Sprache im Kita-Alltag sind dafür entscheidende Instrumente, insbesondere für Kinder mit Einwanderungsgeschichte. Entsprechend gilt es die bestehenden Förderstruktur zu stärken, auszubauen und weiterzuentwickeln. Das Kita-Qualitätsgesetz der Bundesregierung stellt finanzielle Mittel zur Förderung der sprachlichen Bildung bereit. Es ist erfreulich, dass die Landesregierung sich vertraglich verpflichtet hat, diese Gelder gezielt in diesem Bereich einzusetzen.

Bildungsgrundsätze weiterentwickeln und Bildungsstandards etablieren

Die Grundsätze zur Bildungsförderung für Kinder von 0 bis 10 Jahren in Kindertagesbetreuung und Schulen im Primarbereich in Nordrhein-Westfalen von 2018 liefern eine fachliche Grundlage. Dieser Bildungsplan muss nun zu Bildungsstandards weiterentwickelt, Schulfähigkeit definiert und verbindliche Inhalte in den Kindertageseinrichtungen vorgegeben werden, damit möglichst alle Kinder rechtzeitig eingeschult werden können. So würde auch die Basis für systematische externe Evaluationen der pädagogischen Qualität und eine entsprechende Zertifizierung ermöglicht. Dies schafft zudem mehr Transparenz für die Eltern.

Trotz den aktuellen Krisen in der frühkindlichen Bildung, die durch die finanzielle Schieflage der Träger, Fachkräftemangel und Notbetreuung geprägt sind, braucht es hier eine Qualitätsdebatte. Die entsprechenden Rahmenbedingungen müssen geschaffen werden, um Erzieher und Erzieherinnen im Kita-Alltag zu entlasten. Ziel muss es sein, dass sie sich auf ihre Arbeit der frühkindlichen Bildung und die Sprachförderung konzentrieren können.

II. Beschlussfassung

Der Landtag stellt fest:

  • Eine umfassende Bildungsförderung in Kitas ist unerlässlich, um Chancengerechtigkeit und eine angemessene Schulvorbereitung sicherzustellen.
  • Beim Übergang aus der Kita in die Grundschule müssen die Kinder mit Vorläuferfähigkeiten ausgestattet sein, damit sie schulfähig sind.
  • Wir brauchen landesweite Bildungsstandards für Kitas, um eine einheitliche Qualität in der frühkindlichen Bildung zu gewährleisten. Bildungsstandards gefährden nicht die Trägervielfalt oder das Wahlrecht der Eltern.
  • Mehrsprachigkeit bei Kindern ist ein Gewinn für die Gesellschaft, wenn denn eine entsprechende Förderung gewährleistet ist. Die Alltagssprache in jeder Kita in NRW muss jedoch deutsch sein.
  • (Alltagsintegrierte) Sprachförderung muss in allen Kitas ein zentrales Element der Förderung sein. Das gilt insbesondere für Kinder, die zu Hause überwiegend nicht deutsch sprechen.


Der Landtag beauftragt die Landesregierung,

  • gemeinsam mit der Wissenschaft und den Trägern ein gemeinsames Verständnis der Vorläuferkenntnisse zu entwickeln und darüber die Schulfähigkeit zu definieren.
  • die bestehenden Bildungsgrundsätze zu Bildungsstandards mit dem Ziel der Schulfähigkeit weiterzuentwickeln.
  • eine systematische und regelmäßige externe Evaluation der pädagogischen Qualität in den Einrichtungen sicherzustellen und eine entsprechende Zertifizierung zum Qualitätsvergleich einzuführen.
  • ein umfassendes Konzept zur Sprachförderung in deutscher Sprache zu entwickeln, das bereits in der frühkindlichen Bildung ansetzt und den Schwerpunkt auf alltagsintegrierte Sprachbildung legt.

o Dieses Konzept muss durch ausreichende finanzielle und personelle Ressourcen gestützt werden. Die Sprach-Kitas müssen im Kinderbildungsgesetz verankert und langfristig finanziert werden.
o Die Förderung von „plusKitas“ in Nordrhein-Westfalen muss so erweitert werden, dass jede bestehende „Sprach-Kita“ nahtlos in dieses Fördermodell übergehen kann. Dafür muss das Landeskonzept „plusKita“ entsprechend angepasst werden, um die Ziele des Programms „Sprach-Kita“ harmonisch zu integrieren.
o Die Fort- und Weiterbildung für Erzieherinnen und Erzieher im Feld der Sprachförderung muss gestärkt werden.
o Die Dokumentation im Rahmen der alltagsintegrierten Sprachbildung muss vollständig digitalisiert werden, um eine effiziente und zeitgemäße Erfassung zu gewährleisten und um eine schnelle und unkomplizierte Übergabe in die Grundschulen zu schaffen.

  • das vom Schulministerium eingeführte Sprachscreening im Rahmen des Einschulungsprozesses vorzuziehen und durchzuführen, wenn die Kinder vier Jahre alt sind.

o Aus den Ergebnissen des Sprachscreenings müssen bei festgestellten Defiziten ausnahmslos individuelle Sprachförderpläne für die Kinder abgeleitet werden, die von Einrichtungen und Eltern zur Herstellung der sprachlichen Schulfähigkeit genutzt werden.
o Auch eine spätere Rückstellung der Einschulung aufgrund von Sprachdefiziten muss immer zu einem individuellen Sprachförderplan für jedes Kind führen.

  • die finanziellen und personellen Rahmenbedingungen für die frühkindliche Bildung zu verbessern und damit Erzieherinnen und Erzieher zu entlasten.
  • Bürokratie in den Einrichtungen, die nicht auf Maßnahmen des Kinderschutzes zurückzuführen sind, zu reduzieren und damit Erzieherinnen und Erzieherin mehr Raum für die Förderung der Kinder zu geben.
  • Familienzentren und Familiengrundschulzentren weiterzuentwickeln und auszubauen, um Eltern besser in die Schulvorbereitung ihrer Kinder einzubinden und durch niedrigschwellige Beratungs- und Bildungsangebote zu unterstützen. Dazu gehören auch Sprachkurse und -angebote für Eltern mit Einwanderungsgeschichte.