Ein politisches Update für die Pflege in Nordrhein-Westfalen
I. Ausgangslage
Der demografische Wandel stellt die Pflege vor große Herausforderungen. Die Zahl der Menschen in Deutschland, die auf pflegerische Versorgung angewiesen sind, wird in den kommenden Jahren deutlich zunehmen. Die steigende Lebenserwartung führt zu einer Überalterung der Gesellschaft, während der Arbeitskräftemangel im Pflegebereich bereits jetzt spürbar ist. Das bestätigen auch die Vorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes. Während im Jahr 2021 in Nordrhein-Westfalen knapp 1,2 Millionen Menschen pflegebedürftig waren, werden es bis 2055 knapp 1,6 Millionen Menschen sein, ein Anstieg um 33 Prozent.
Der demografische Wandel betrifft auch die Pflegenden: 2019 waren rund 40 Prozent der Pflegekräfte über 50 Jahre alt, viele von ihnen werden in den nächsten Jahren in Rente gehen. Laut dem Pflegereport der Barmer gehen zudem von 1.000 Altenpflegefachkräften durchschnittlich 3,9 Prozent pro Jahr in Frührente. Das sind 27 Prozent mehr als im Durchschnitt anderer Berufe. Der Mangel an ausgebildetem Personal führt zu einer erhöhten Belastung der vorhandenen Pflegekräfte. Das Berufsbild Pflegekraft muss daher wieder an Attraktivität gewinnen.
Die Pflege in Deutschland wird zudem durch Bürokratie, Auflagen und Verordnungen belastet. Es braucht dringend einen spürbaren Bürokratieabbau. Ebenfalls eine große Rolle spielt die Finanzierung der Pflege. Dies betrifft einerseits die generationengerechte Finanzierung der Pflegeversicherung, andererseits die Belastung der pflegebedürftigen Personen und ihrer Angehörigen durch immer höhere Eigenanteile an den Pflegekosten. Im Durchschnitt liegt die Summe aus der Kenngröße des „Einrichtungseinheitlichen Eigenanteils“(EEE), den Kosten für Unterkunft und Verpflegung sowie den Investitionskosten zum Jahresbeginn 2024 in Nordrhein-Westfalen bei 3.088,00 Euro. Für die Pflegeanbieter und Einrichtungen stellen der Fachkräftemangel, die steigenden Energiepreise und Sachkosten sowie unzureichende Entgelte der Pflegekassen eine enorme finanzielle Belastung dar.
Es ist also Zeit für einen politischen Ruck in der Pflege in Nordrhein-Westfalen. Dazu gehören folgende wesentliche Elemente:
Impuls für die Gewinnung von in- und ausländischen Pflegeassistenz- und Pflegefachkräften
Eine gute Ausbildung ist der Grundstein für den erfolgreichen Einstieg in den Beruf. Die generalistische Pflegeausbildung hat die bisherigen Ausbildungen der Alten-, Kranken- und Kinderkrankenpflege verbunden. Daneben ist die einjährige Pflegefachassistenzausbildung in Nordrhein-Westfalen durchaus attraktiv (kurz, einfach, gute Aufstiegs- und Verdienstmöglichkeiten). Mit der Umsetzung des seit dem 1. Juli 2023 eingeführten neuen Personalbemessungsverfahrens wird sich ein deutlicher personeller Mehrbedarf bei Pflegeassistenzkräften ergeben. Damit besteht auch ein Bedarf, die Ausbildungskapazitäten in der Pflegefachassistenz auszuweiten.
Dringend umzusetzen ist die Ausgestaltung der generalistischen Pflegeausbildung auch in Teilzeitform. Die Vereinbarkeit von Familienaufgaben wie Kinderbetreuung oder Pflege naher Angehöriger mit der Berufsausbildung erfordert ein hohes Maß an Flexibilität. Allerdings wurde aufgrund der Komplexität der neuen Pflegeausbildung und des damit einhergehenden erhöhten organisatorischen Aufwands von der rechtlichen Möglichkeit einer Teilzeitausbildung bislang wenig Gebrauch gemacht. Dabei ist entscheidend, eine Teilzeitausbildung zu etablieren, die im Einklang zum Pflegeberufegesetz steht, den besonderen Bedarfen der Auszubildenden gerecht wird und gleichzeitig die arbeitsorganisatorischen Bedingungen der Träger der praktischen Ausbildung berücksichtigt.
Die Pflegeschulen sind für die Ausbildung von Pflegekräften elementar. Die Politik muss alles tun, um sie von bürokratischen Hürden zu befreien. Wir stellen bereits jetzt einen Mangel an Lehrkräften in Pflegeschulen fest, der sich mit der Anforderung eines Masterabschlusses zusätzlich verschärfen wird. Interessierte Auszubildende aus dem Ausland können an Pflegeschulen nicht zugelassen werden, wenn die Anerkennung vorheriger Abschlüsse nicht vorliegt oder der Aufenthalt nicht rechtzeitig bestätigt wird.
Die Dauer der Anerkennungsverfahrens für ausländische Abschlüsse ist für viele Pflegeanbieter eine zu hohe Hürde. 2019 hatte die damals von FDP und CDU getragene Landesregierung entschieden, dass sämtliche Berufsanerkennungsverfahren im Gesundheitsbereich nicht mehr dezentral bei allen fünf Bezirksregierungen erfolgen sollten. Als zentrale Stelle sollte die Bezirksregierung Münster diesen Aufgabenbereich übernehmen. 2021 konnte diese Neuordnung der Behördenstruktur mit der „Zentralen Anerkennungsstelle für die Gesundheitsberufe in Nordrhein-Westfalen“(ZAG) umgesetzt werden. Dennoch sind weitere Verbesserungen erforderlich. Hierbei kann auch der Einsatz von KI und die Digitalisierung der Verfahren helfen. Zudem sind Verbesserungen bei der Bearbeitung und Erteilung von Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen nötig.
Digitalisierung, Alters-Assistenzsysteme und Pflege-Innovationen
Im Bereich der Pflege gibt es inzwischen hervorragende Entwicklungen im Bereich der Digitalisierung, der Alters-Assistenzsysteme und von Pflege-Innovationen. Bei der Anwendung hinken wir anderen Ländern wie beispielsweise Finnland jedoch noch weit hinterher. Im ambulanten Bereich ist beispielsweise die Abrechnung mit den Kranken- und Pflegekassen noch nicht vollständig digital, sondern zum Teil noch per Fax organisiert. Dass muss sich ändern! Die Datensicherheit ist selbstverständlich sicherzustellen.
Die Herausforderungen der Pflege werden wir nur lösen, wenn wir eine Digitalisierungs- und Innovationsinitiative in der Pflege starten. Dabei geht es nicht nur um unmittelbare Unterstützung im Pflegebereich. Es geht auch um Vereinfachungen und Bürokratieabbau. Neben den Arbeitsbedingungen sind dabei Prävention, Gesundheitsförderung, Hilfsmittel und technische Innovationen wichtige Elemente, um die berufliche Situation von Pflegekräften zu verbessern und gesundheitliche Belastungen zu reduzieren. Hierfür müssen die entsprechenden Rahmenbedingungen geschaffen werden.
Aktuelle Kostenentwicklung in der Pflege und Bürokratieabbau
Pflegeeinrichtungen und ambulante Dienste berichten über extreme Steigerungen in allen Kostenbereichen. Die mit den Pflegekassen vereinbarten Entgelte sind inzwischen bei weitem nicht mehr kostendeckend. Hinzu kommt, dass gemäß Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG) seit dem 1. September 2022 eine Verpflichtung für Pflegeeinrichtungen zur tariflichen Entlohnung für Pflege- und Betreuungskräfte gilt. Außerdem ist in vielen Einrichtungen die Belegungsquote aufgrund des Personalmangels erheblich gesunken.
Eine hohe Priorität muss auch dem Bürokratieabbau eingeräumt werden. Mit einem Verzicht auf unnötige Bürokratie würde den in der Pflege tätigen Unternehmen und Pflegekräften das erforderliche Vertrauen entgegengebracht, welches für die Motivation, in der Pflege tätig zu bleiben, unabdingbar ist. Gleichzeitig könnten die knappen Ressourcen unmittelbar für die Dienste am Menschen eingesetzt werden.
Die Heimaufsicht im Rahmen des Wohn- und Teilhabegesetzes (WTG) und der Medizinische Dienst (MDK) haben im Bereich des Ordnungs- und des Leistungsrechts unterschiedliche Aufträge. Es besteht ein enormer bürokratischer Aufwand für die Pflege durch doppelte Prüfungen des Medizinischen Dienstes und der kommunalen WTG-Behörden. Rund zwei Drittel der Prüfungen sind identisch. Allerdings ist die nach § 117 SGB XI geforderte Abstimmung zwischen Qualitätsprüfungen des MDK und ordnungsrechtlichen Prüfungen der WTG-Behörden zur Vermeidung von Doppelprüfungen in der Praxis immer noch nicht erreicht. Die Prüfungen binden erhebliche zeitliche Ressourcen des Pflegepersonals. Hier besteht großes Potenzial zum Bürokratieabbau.
Stärkung der häuslichen Pflege
In Deutschland wurden 2021 rund 84 Prozent der Pflegebedürftigen zu Hause versorgt. Davon wurden 63 Prozent überwiegend durch Angehörige gepflegt. Dies ist eine herausragende Leistung, die für die Versorgung pflegebedürftiger Menschen sehr wichtig ist. Den Angehörigen gehört nicht nur eine große Wertschätzung, sie benötigen auch die Unterstützung der Politik. Ziel muss es deshalb sein, die älter werdende Bevölkerung bei ihrem Leben im Alltag so zu unterstützen, dass diese möglichst lange in ihrer häuslichen Umgebung bleiben, soziale Kontakte aufrechterhalten und ihren Alltag weiterhin möglichst selbstständig bewältigen können.
Dazu bedarf es auch der Bündelung verschiedener Versorgungsformen in einem Pflegenetzwerk – mit ambulanten Pflegediensten, mit Tages-, Nacht- und Kurzzeitpflege, mit Betreuungskräften aus dem Ausland und mit Angehörigen. Niedrigschwellige Nachbarschaftshilfen und ausgebaute Netzwerke vor Ort tragen dazu bei, stationäre Einrichtungen und die pflegenden Angehörigen zu entlasten. Dazu brauchen wir einen einfachen und niedrigschwelligen Zugang zur Inanspruchnahme des Entlastungsbetrags.
Die Organisation von Pflegearrangements hat sich in den letzten Jahren verändert, heute wünschen sich viele Betroffene und ihre Pflegepersonen flexible Versorgungsmöglichkeiten entlang der Sektorengrenzen. Eine Neujustierung des Leistungs- und Vertragsrechts in der Pflege könnte daher unter anderem mittels der Einführung eines sektorenübergreifenden Pflegebudgets verwirklicht werden. Pflegebedürftige bekommen damit abhängig vom individuellen Pflegegrad die Möglichkeit, die ihnen zustehenden Geldleistungen als flexibles Budget zu nutzen. Dieses Budget ist unabhängig von der Versorgungsform zu gewähren. Die pflegebedürftige Person kann damit pflegerische und hauswirtschaftliche Dienstleistungen frei in Anspruch nehmen.
Darüber hinaus braucht es Anreize für faire und bezahlbare Live-in-Pflege in Deutschland. Eine erhebliche Anzahl von Pflegebedürftigen wird von rund 600.000 Betreuungskräften aus dem Ausland zu Hause versorgt. Da die aktuelle Bemessung des Pflegegeldes für die Finanzierung der Live-in-Pflege in der Regel nicht ausreicht, weichen sehr viele Pflegebedürftige auf den Schwarzmarkt oder unqualifizierte Anbieter aus. Die Folgen sind mangelhafte Versorgung und unfaire bzw. missbräuchliche Arbeitsverhältnisse. Eine stärkere finanzielle Förderung der ambulanten Versorgung würde den Pflegebedürftigen den Verbleib in ihren eigenen vier Wänden ermöglichen. Durch eine Koppelung der Förderung an die Zertifizierung der Anbieter, z.B. nach DIN SPEC 33454 (Betreuung unterstützungsbedürftiger Menschen durch im Haushalt wohnende Betreuungskräfte aus dem Ausland - Anforderungen an Vermittler, Dienstleistungserbringer und Betreuungskräfte) könnte sichergestellt werden, dass die Versorgung aktuellen Qualitätsstandards entspricht.
II. Beschlussfassung
Der Landtag beauftragt die Landesregierung,
- die Ausbildungskapazitäten in der einjährigen Pflegefachassistenzausbildung deutlich zu erhöhen.
- die einjährige Pflegefachassistenzausbildung verstärkt zu bewerben.
- Rahmenkriterien und Vorschläge zur Umsetzung verschiedener Teilzeitmodelle für die Pflegeausbildung zu erstellen, die sich an den besonderen Bedarfen der Auszubildenden orientieren.
- Vorgaben für Pflegeschulen zu flexibilisieren, insbesondere hinsichtlich der Übergangsregelungen für die Anforderungen an Lehrkräfte.
- den Ausbildungszugang und die Zulassung an Pflegeschulen für interessierte Pflege-Auszubildende aus dem Ausland zu vereinfachen.
- zu prüfen, wie für Pflege-Auszubildende aus Drittstaaten eine für den Zeitraum der Ausbildung vorbehaltlose Eintragung in den Aufenthaltstitel durch die zuständigen Behörden ermöglicht werden kann, die auch einen Arbeitsplatzwechsel mit sofortiger Arbeitsaufnahme ermöglicht.
- die Verfahren zur Anerkennung ausländischer Abschlüsse weiter zu vereinfachen, zu beschleunigen und zu digitalisieren.
- das Angebot von Schulfremdenprüfungen (Externenprüfungen) in Verbindung mit qualifizierten Vorbereitungslehrgängen auszubauen und verstärkt Sprachqualifizierungskurse angehenden ausländischen Beschäftigten in der Pflege zur Verfügung zu stellen.
- die Bearbeitung und Erteilung von Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen für Menschen aus Drittstaaten bei Arbeitsplatz- und/oder Wohnortwechsel zu beschleunigen.
- eine Digitalisierungs- und Innovationsinitiative Pflege zu entwickeln.
- landesrechtliche Normen auf Anpassungsmöglichkeiten zur Vereinfachung und Digitalisierung zu überprüfen.
- die Vermittlung digitaler Kompetenzen stärker in der Ausbildung abzubilden.
- darauf hinzuwirken, dass die Kostenentwicklung und in Folge des Fachkräftemangels geringere Belegungsquoten bei den Vergütungsverhandlungen mit den Pflegekassen angemessen berücksichtigt werden.
- eine Task-Force mit Wissenschaft, Verbänden und Unternehmen zum Bürokratieabbau in der Pflege einzurichten.
- Prüfungen des Medizinischen Dienstes und der kommunalen WTG-Behörden besser zu harmonisieren und die Vorgaben zur Vermeidung von Doppelprüfungen umzusetzen.
- eine Förderung innovativer Projekte in der häuslichen Pflege zu entwickeln.
- die niedrigschwellige Regelungen der Anerkennungs- und Förderungsverordnung (An- FöVO) im Hinblick auf die Voraussetzungen zur Nutzung des Entlastungsbetrages bei der Nachbarschaftshilfe fortzuführen.
- eine strukturelle Regelförderung für Kurzzeit-, Nacht- und Tagespflegeplätze einzuführen, die den besonderen Aufwand dieser Versorgungsformen berücksichtigt.
- sich auf Bundesebene für die Einführung eines sektorenübergreifenden Pflegebudgets einzusetzen, um die Finanzierung der ambulanten und stationären Pflege zu harmonisieren.
- sich auf Bundesebene für eine geregelte Finanzierung für die Inanspruchnahme von Leistungen der Live-in-Pflege durch zertifizierte Anbieter einzusetzen.