Entscheidung über rund 85.000 Besoldungswidersprüche in Nordrhein-Westfalen – Landesregierung muss mit Musterverfahren einer drohenden Klagewelle vorbeugen und zeitnah die amtsangemessene Alimentation von Bediensteten überprüfen

I. Ausgangslage

Nach dem beamtenrechtlichen Alimentationsprinzip ist ein Dienstherr dazu verpflichtet, seine Beamtinnen und Beamten sowie deren Familien ein Leben lang angemessen zu alimentieren. Die Höhe der jeweiligen Alimentation ist abhängig von dem Dienstrang, von der mit dem Amt verbundenen Verantwortung sowie von der Bedeutung des Berufsbeamtentums für die Allgemeinheit. Unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse und des allgemeinen Lebensstandards muss dabei stets die rechtliche und wirtschaftliche Unabhängigkeit des Beamten gewährleistet sein.

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinen Beschlüssen vom 4. Mai 2020 das Prinzip der amtsangemessenen Alimentation hinsichtlich der Besoldungsvorschriften auf Landesebene konkretisiert. Der Beschluss 2 BvL 4/18 bezieht sich vor allem auf das Mindestabstandsgebot zwischen der Nettoalimentation und dem Grundsicherungsniveau. Diesem Gebot sei nicht mehr entsprochen, wenn die Nettoalimentation der untersten Besoldungsgruppe um weniger als 15 Prozent über dem Grundsicherungsniveau liege. Der bisher übliche Rückgriff auf das steuerlich freizustellende sächliche Existenzminimum nach dem Existenzminimumbericht der Bundesregierung wird in Teilen als nicht sachgerecht erachtet und deshalb eine realitätsgerechtere Berücksichtigung insbesondere von Mieten und Heizkosten anhand tatsächlich anerkannter Bedarfe gefordert.

Führende Verbände, wie beispielsweise der Deutsche Beamtenbund (DBB) in Nordrhein-Westfalen, äußerten zuletzt erhebliche Zweifel an der Verfassungskonformität der aktuellen Besoldungshöhe. Es ist demnach fraglich, ob der vom Bundesverfassungsgericht geforderte Mindestabstand der Nettoalimentationen zur Grundsicherung überhaupt noch gewährleistet werden kann, besonders in Anbetracht der erfolgten Einführung des Bürgergeldes und der derzeit hohen Inflationsrate. Dieser Umstand wird noch durch die geplante Erhöhung der Sozialleistung im kommenden Jahr um rund 12 Prozent weiter verschärft, sodass auch die letzte Steigerung der Besoldungen zum 1. Dezember 2022 die Bedenken nicht schmälert. Darüber hinaus wirft der DBB in Nordrhein-Westfalen die Frage auf, ob die stärkere Betonung der kindbezogenen Familienzuschläge dem Leistungsprinzip im Besoldungsgefüge entspräche.

Die Landesverbände von DBB und des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) haben ihren Mitgliedern als Konsequenz Ende letzten Jahres nahegelegt, bis zum 31. Dezember 2022 Widerspruch gegen die Besoldung bei ihrem Dienstherren einzulegen. Dieser Empfehlung sind etliche Bedienstete nachgekommen. Mit der Antwort auf die Kleine Anfrage der FDP-Landtagsfraktion vom 21. Juli 2023 (Drucksache 18/5466) räumt die Landesregierung ein, dass seit 2021 knapp 85.000 Anträge auf amtsangemessene Besoldung oder Widersprüche zur Besoldung eingegangen sind. Entscheidungen in der Sache sind aber diesbezüglich noch nicht getroffen worden.

II. Handlungsnotwendigkeiten

Die Gesetzgeber aller Gebietskörperschaften als Dienstherren sind angesichts der konkreten Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts dazu verpflichtet, sich mit dem Abstandsgebot auseinanderzusetzen und die Besoldungshöhe im Falle einer Nichteinhaltung auf Basis einer plausiblen und realitätsgerechten Methodik rechtzeitig neu zu justieren. In Anbetracht des zunehmenden Grundsicherungsniveaus sowie der steigenden Lebenshaltungskosten ergibt sich die Notwendigkeit einer zeitnahen umfassenden Prüfung der Verfassungskonformität der Alimentation. Mit Verweis auf die Besoldungsanpassung 2022 und die Erhöhung der Familienzuschläge im letzten Jahr entzieht sich die Landesregierung dieser Verantwortung und erachtet eine ernsthafte Prüfung der Verfassungskonformität selbst vor dem Hintergrund der massiven Bedenken ihrer Beamtinnen und Beamten derzeit offenbar als nicht notwendig.

Die gegenwärtige Flut an Besoldungswidersprüchen und der damit verbundene enorme Bearbeitungsaufwand können zur Folge haben, dass mögliche Ansprüche auf höhere Besoldungen nach drei Jahren verjähren. Abgesehen von der verheerenden Signalwirkung auf die betroffenen Bediensteten könnte dies eine massive Klagewelle nach sich ziehen und zu tausendfachen juristischen Auseinandersetzungen führen. Mit einer Ruhendstellung der Widersprüche ließen sich nicht nur Verjährungen vermeiden, sondern auch Musterklagen zur Prüfung der Verfassungskonformität der Alimentationen ermöglichen. Mit diesem Vorgehen würde die Landesregierung die Bedenken der Bediensteten ernst nehmen, ihnen die nötige Wertschätzung entgegenbringen sowie zugleich Klarheit und Planungssicherheit schaffen.

Angesichts von strukturell deutlich über 20.000 unbesetzten Stellen im Öffentlichen Dienst des Landes Nordrhein-Westfalen gewinnt die Wahrnehmung des Arbeitgebers Land als fairer und verlässlicher Partner von Bediensteten und Beschäftigten weiter an Bedeutung. Die Steigerung der Attraktivität von Tätigkeiten im Öffentlichen Dienst bleibt eine dauerhafte Aufgabe der laufenden Wahlperiode.

III. Beschlussfassung

Der Landtag beauftragt die Landesregierung,

  • die Ruhendstellung der Anträge auf amtsangemessene Besoldung sowie der Widersprüche gegen Besoldungen anzuordnen, um einer Verjährung von Ansprüchen und einer damit einhergehenden Klagewelle vorzubeugen,
  • Musterprozesse zu zentralen Streitpunkten zu führen, um die Verfassungskonformität der Besoldungshöhe zu überprüfen und nach deren Entscheidung Urteile von Musterklagen allgemein anzuerkennen,
  • sich zeitnah und dauerhaft mit dem Grundsatz der amtsangemessenen Besoldung vor dem Hintergrund der mehrfach signifikant gestiegenen Sozialleistungen sowie der hohen Inflationsrate auch für die Attraktivität des Öffentlichen Dienstes auseinanderzusetzen.