Erschütternde Ergebnisse bei IQB-Bildungstrend. Die Landesregierung muss alles daransetzen, die Qualität der Bildung zugunsten der Bildungsgerechtigkeit zu heben.

I. Ausgangslage

Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends für die vierten Klassen der Primarstufe in diesem Jahr haben ein erdrückendes Bild des Abwärtstrends bei den Kernkompetenzen bei vielen Kindern aufgezeigt – sowohl im Bundestrend, als auch für Nordrhein-Westfalen. Getestet wurden die Kompetenzen in den Fächern Deutsch und Mathematik auf der Grundlage der bundesweit geltenden Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz (KMK). Die Daten zum IQB-Bildungstrend 2021 wurden inmitten der Corona-Pandemie zwischen April und August 2021 erhoben. Unterschieden wird in der Analyse zwischen dem Erreichen oder Übertreffen eines Regelstandards, der im Schnitt von Schülerinnen und Schülern in diesem Alter erwartet wird und dem Nicht-Erreichen eines Mindeststandards.

Den Mindeststandard beim Lesen erreicht rund jeder fünfte Schüler aus Nordrhein-Westfalen (21,6 Prozent) nicht. Bei der Erhebung 2016 waren es noch 15,7 Prozent der Schülerinnen und Schüler. Bei der Rechtschreibung sieht es noch schlechter aus. Hier erreichen 32,6 Prozent die Mindestanforderungen nicht. Nur 39,6 Prozent erfüllen den Regelstandard. Im Jahr 2016 waren es nur 23,9 Prozent, die massive Probleme mit der Rechtschreibung hatten. In Mathematik sind es 28,1 Prozent der Schüler in NRW, die den Mindeststandard nicht erzielen. Rund jeder zweite Viertklässler (47,3 Prozent) erfüllt den Regelstandard im Bereich Mathematik.

So prägnant und drastisch die Zahlen uns erneut vor Augen führen, mit welchem Mangel, insbesondere an Grundschulen, gearbeitet werden muss, so wenig überraschend dürften die Ergebnisse sein. Bereits vor der Pandemie zeichnete sich ein Abwärtstrend bei den Kernkompetenzen in der Primarstufe ab. Hinzu kamen die Einschränkungen der Corona-Pandemie mit ihrem im hohen Maße benachteiligenden Einfluss auf die Jüngsten in unserer Gesellschaft.

Ein Negativtrend bei den Kernkompetenzen der Grundschülerinnen und Grundschüler ist bereits seit einigen Jahren zu verzeichnen. Um dem entgegenzuwirken, hat das damalige FDP-geführte Schulministerium im Jahr 2020 den Masterplan Grundschule auf den Weg gebracht. Ziel war und ist es, die Kernkompetenzen der Grundschüler in Lesen, Schreiben und Rechnen zu stärken. Sie sind das wichtigste Fundament für die Bildungslaufbahn unserer Kinder. Die Maßnahmen werden seit dem Schuljahr 2021/22 aufsteigend ab der Schuleingangsphase umgesetzt, sodass sie sich auf die aktuelle Studie noch nicht auswirken konnten. Wichtig ist hier vor allem aber, dass Lehrkräfte auch Zeit finden, diese wichtigen fachlichen Maßnahmen in der individuellen Förderung umzusetzen. Dafür müssen sie von anderen Aufgaben entlastet werden und mehr Kolleginnen und Kollegen an ihrer Seite haben (vgl. Drucksache 18/1102).

Entfielen in den Jahren 2013 bis 2017 durchschnittlich 15,74 Schülerinnen und Schüler auf eine Lehrkraft, waren es in den Jahren 2018 bis 2022 im Durchschnitt 14,7. Für das Jahr 2021 kommen im Durchschnitt aller Schulformen 14,2 Schülerinnen und Schüler auf eine Vollzeitlehrereinheit, in den Grundschulen sind es 15,7. Die Grundschulen haben damit in NRW die schlechteste Schüler-Lehrer-Relation im Vergleich der allgemeinbildenden Schulformen. Besonders im Ländervergleich zeigt der aktuelle INSM-Bildungsmonitor, dass an nordrhein-westfälischen Grundschulen immer noch mehr Kinder und Jugendliche je Lehrkraft unterrichtet werden als in den meisten anderen Bundesländern. Um die Qualität der Bildung in Nordrhein-Westfalen auch im Ländervergleich weiter zu verbessern, muss insbesondere im Primarbereich noch deutlich mehr Personal ausgebildet und eingestellt werden.

Die im IQB-Bildungsmonitor erhobenen Daten weisen nach, dass sich soziale und zuwanderungsbezogene Disparitäten verschärft haben. Der Zusammenhang zwischen sozialen Hintergrund und erreichtem Kompetenzniveau der Kinder ist verstärkt deutlich geworden. Ebenso gilt dies für Kinder mit Zuwanderungshintergrund – insbesondere für die Kinder, die selbst im Ausland geboren wurden. Bei insgesamt abgefallenem Kompetenzniveau haben es die Kinder aus sozial schwierigeren Familienhintergründen, ebenso wie die mit Zuwanderungshintergrund, noch einmal deutlich schwerer, das erwartete Kompetenzniveau zu erreichen.

Die Ursachen für den deutlichen Abwärtstrend können in der Studie nicht eindeutig nachgewiesen werden. Jedoch werden neben strukturellen Problemen, die sich bereits bei der Erhebung 2016 zeigten, insbesondere die Einschränkungen der Corona-Pandemie mit ins Feld geführt. Kinder haben unter den Einschränkungen in der Schule massiv gelitten. Es besteht die große Gefahr, dass die Auswirkungen sie lebenslang begleiten werden, wenn hier nicht unmittelbar nachgesteuert wird. Bereits heute klagen viele Betriebe über nicht ausbildungsreife junge Menschen. Wenn in der Grundschule nicht die wichtigen Fundamente für die Bildungsbiographie gelegt werden, so wird es für junge Menschen immer schwieriger, diese Defizite aufzuholen und eine erfolgreiche Bildungsbiographie zu schreiben. Es ist eine Frage der Bildungsgerechtigkeit, dass den betroffenen Jahrgängen und den Folgenden jetzt die volle Aufmerksamkeit gelten muss. Die Investition in Bildung, bei den Kleinsten angesetzt, muss oberste Priorität der Landesregierung sein.

Umso erschreckender ist ein Blick in den schwarz-grünen Koalitionsvertrag, in dem die Grundschulen geradezu vernachlässigt werden. Ansätze zur Stärkung der Kernkompetenzen der Grundschülerinnen und Grundschüler fehlen gänzlich. Die Landesregierung darf sich aber nicht auf den schon angestoßenen Maßnahmen aus dem Masterplan Grundschule ausruhen. Weitere Kraftanstrengungen sind unausweichlich.

Die nun unmittelbar betroffenen Jahrgänge müssen jetzt in den Blick genommen werden. Sie dürfen nicht mit einem solchen Ballast an Defiziten ihren weiteren Bildungsweg auf den weiterführenden Schulen beschreiten müssen. Darüber hinaus muss sichergestellt werden, dass die nachfolgenden Jahrgänge sich diesem Abwärtstrend nicht anschließen. Ein guter Spracherwerb für Muttersprachler ebenso wie Kinder mit Zuwanderungshintergrund ist unerlässlich für die weitere Bildungslaufbahn. Auf allen Ebenen müssen hier alle Anstrengungen unternommen werden, bestehende Angebote wie die Sprach-Kitas zu erhalten und zu stärken sowie Maßnahmen wie die frühkindliche Bildung weiter zu verbessern. Beste Bildung beginnt ab der Geburt. Dafür braucht es starke Familien, die ihre Kinder von Beginn an unterstützen können und Kindertagesbetreuungsangebote, die für alle Kinder die bestmögliche Bildung und Förderung bieten. Die bestehenden Familienzentren, angedockt an den Kindertagesstätten, ebenso wie den Grundschulen bieten ein gutes Fundament. Hier gilt es, niedrigschwellig notwendige Unterstützung zum Beispiel in Form von Sprachangeboten oder weiteren Förderangeboten auszubauen.

Im Ländervergleich fällt auf, dass u.a. in Hamburg der Abwärtstrend nicht so deutlich zu verzeichnen ist. Im Ländervergleich verbessert sich Hamburg deutlich von Platz 14 im Jahr 2011 auf Platz 6 (2021). Ties Rabe, A-Länderkoordinator bei der KMK und Hamburgs Senator für Schule und Berufsbildung, erklärt: „Statt auf Entlastung und Erleichterung setzen wir auf mehr und intensiveren Unterricht, eine stärkere Fokussierung auf Kernkompetenzen, klare und hohe Leistungsanforderungen, Schulinspektionen und Lernstandsvergleiche, mehr Übungsphasen und die gezielte Förderung schwächerer Schülerinnen und Schüler.“ Ziel muss es daher primär sein, dass qualitativ hochwertiger Unterricht stattfindet und Lehrkräfte ausreichend Zeit finden, individuell zu fördern. Die Landesregierung muss jetzt alle Register ziehen, um Lehrkräfte von nicht-pädagogischen Aufgaben weitestgehend zu entlasten und die notwendigen Dokumentationen und Pflichten so zu gestalten, dass sie zeitlich deutlich begrenzt werden können.

II. Beschlussfassung

Der Landtag stellt fest:

  • Bereits seit 2011 ist ein Abwärtstrend bei den Kompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen bei den Grundschülerinnen und Grundschülern zu verzeichnen.
  • Die Corona-Pandemie und damit zusammenhängende Einschränkungen des Schulbetriebs haben zusätzlich deutlich benachteiligende Auswirkungen auf die Bildungsgerechtigkeit und den Kompetenzerwerb, verstärkt in Abhängigkeit vom sozialen Status: soziale Disparitäten verschärfen sich.
  • Kinder mit Zuwanderungshintergrund haben zusätzlich zu dem allgemeinen Negativtrend beim Kompetenzerwerb, besondere Schwierigkeiten, die Mindestanforderungen zu erfüllen.
  • Die Landesregierung wird von dem Abwärtstrend der grundlegenden Kompetenzen bei den Grundschülerinnen und Grundschülern offenbar überrascht. Denn in ihrem Koalitionsvertrag findet sich keine einzige Maßnahme zur qualitativen Stärkung des Kompetenzerwerbs an Grundschulen.
  • Eine Verlängerung und Verstetigung des Programms „Ankommen und Aufholen nach Corona“ über 2022 hinaus ist zu begrüßen.
  • Für den Erfolg der Bildungslaufbahn braucht es eine ganzheitlichen Ansatz, der die frühkindliche Bildung miteinbezieht.
  • Die weitere Entlastung von Erzieherinnen und Erziehern durch die Verstetigung des Kita-Helfer-Programms und den damit einhergehenden Erhalt gewonnener Arbeitsplätze, ist zu begrüßen.

Der Landtag fordert die Landesregierung auf,

  • aufbauend auf dem Masterplan Grundschule, Maßnahmen zur Förderung der Kernkompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen weiter in den Fokus zu stellen.
  • eine deutliche Entlastung der Lehrkräfte von nicht-pädagogischen Aufgaben zu schaffen, damit sie sich auf die individuelle Förderung und den Unterricht konzentrieren können.
  • eine Lehrerstellenbesetzungsoffensive.NRW mit den bereits von uns eingebrachten Forderungspunkten umzusetzen (vgl. Drucksache 18/1102).
  • das erfolgreiche und gut angenommene Einsetzen sozialpädagogischer Fachkräfte in der Schuleingangsphase weiter auszubauen, um frühzeitig notwendige individuelle Förderung zu ermöglichen.
  • die Talentschulen weiter auszubauen um dort gezielt zu unterstützen, wo die Herausforderungen am größten sind. Kein Talent darf unerkannt bleiben.
  • Familienzentren an den Kindertagesstätten sowie Familiengrundschulzentren weiter auszubauen.
  • sicherzustellen, dass jede der fast 2.900 Grundschulen in Nordrhein-Westfalen mit mindestens einer sonderpädagogischen Fachkraft zusätzlich unterstützt wird.
  • Sofortmaßnahmen für die unterrichtsbegleitende individuelle Unterstützung der Schülerinnen und Schüler der Eingangsklassen an Haupt-, Real-, Sekundar- und Gesamtschulen, umgehend auf den Weg zu bringen
  • zusätzliche Studienstandorte für das Grundschullehramt und Sonderpädagogik, z.B. an der RWTH Aachen, zu schaffen.
  • bei der Umsetzung des Startchancen-Programms auf den Bund zuzugehen und zu einer beschleunigten Umsetzung zwischen Bund und Ländern beizutragen. Das Land NRW sollte sich auch bei den anderen Bundesländern dafür einsetzen, zu einer schnellen Lösung zu gelangen, um bessere Unterstützung für unsere Schulen rasch zu ermöglichen.
  • die auskömmliche Finanzierung der Sprach-Kitas zu gewährleisten.

Henning Höne
Marcel Hafke Prof.
Dr. Andreas Pinkwart

und Fraktion