Es ist fünf nach zwölf – Kita-System braucht Taten statt warmer Worte

I. Ausgangslage

Mit dem Start des neuen Kindergartenjahres beginnt für viele Kinder und Eltern ein neuer Lebensabschnitt –leider mit altbekannten Problemen. Weiterhin setzen Personalnot und gestiegene Kosten das System der Kindertagesstätten (Kita) in Nordrhein-Westfalen unter massiven Druck. Gleichzeitig steigt der Betreuungsbedarf in Nordrhein-Westfalen. Laut einer Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend besteht in Nordrhein-Westfalen eine Betreuungslücke von 17,4% (Differenz von Betreuungsbedarf 30,4% und Betreuungsquote 47,8%). Gemessen am Betreuungsbedarf fehlen laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung in diesem Jahr in Nordrhein-Westfalen knapp 102.000 Kita-Plätze.

Damit einher geht der Mangel an rund 25.000 Erzieherinnen und Erziehern. Die Hilferufe der Kommunen, Träger und Elterninitiativen werden lauter, besorgniserregend
und sind teilweise verzweifelt. So benennt der Paritätische Wohlfahrtsverband NRW klar die Folgen der Kombination aus Fachkräftemangel und Finanzierungsproblemen: Kürzung von Betreuungszeiten, Notbetrieb bis zur Schließung von Einrichtungen.

Man sollte annehmen, dass die formulierten Hilferufe unüberhörbar sind. Doch während die betroffenen Erzieherinnen und Erzieher vor Ort versuchen, mit kreativen Lösungen und unermüdlichem Engagement sich dem Mangel entgegenzustellen und während viele Eltern die vergangenen Wochen genutzt haben, um sich und ihre Kinder auf den neuen Lebensabschnitt vorzubereiten, falls sie einen Kita-Platz ergattern konnten, blieb die Landesregierung weiterhin tatenlos und feierte lieber Familienfeste finanziert von Steuergeldern.

In Nordrhein-Westfalen sollten sich Eltern und ihre Kinder darauf verlassen können, dass ein belastbares und qualitativ hochwertiges Kita-Angebot besteht. Qualitative frühkindliche Bildung in den Kindertagesstätten spielt eine entscheidende Rolle für die individuelle Entwicklung von Kindern und hat darüber hinaus erhebliche volkswirtschaftliche Auswirkungen. Durch hochwertige frühkindliche Bildung erhalten Kinder nicht nur eine optimale Basis für ihre kognitive, emotionale und soziale Entwicklung, sondern auch die Möglichkeit, ihre Talente und Fähigkeiten optimal zu entfalten. Frühkindliche Bildung fördert zudem die Chancengerechtigkeit und trägt langfristig zur Verringerung von Bildungsungleichheit bei.

Wenn Kindertagesstätten geschlossen werden, führt dies zu einem erheblichen wirtschaftlichen Schaden. Eltern können möglicherweise nicht arbeiten gehen oder müssen ihre Arbeitszeit reduzieren, was zu Einkommensverlusten und einem Rückgang der Produktivität führt.

Darüber hinaus können Kitaschließungen langfristige Auswirkungen auf die Fachkräfteentwicklung und die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit einer Region haben. Daher ist die Investition in qualitative frühkindliche Bildung und der Schutz der Kindertagesstätten von großer Bedeutung für die zukünftige Entwicklung von Kindern und die Stabilität der Volkswirtschaft in NRW. Diese Annahmen bestätigt auch ein Gutachten der wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages.

Das Handeln der Landesregierung muss darauf ausgelegt sein, ein belastbares und qualitativ hochwertiges Kita-System zu sichern und kontinuierlich auszubauen sowie adäquat auf Hilferufe aus der Kita-Landschaft zu reagieren. In ihrer Stellungnahme und dem damit einhergehenden Brief an die Einrichtungen zum Start des neuen Kindergartenjahres kommt Familienministerin Josefine Paul allerdings nicht über eine Lagebeschreibung hinaus.

Dabei sind die Problemlagen lange bekannt. Die Ministerin trägt seit über einem Jahr die Verantwortung. Es fehlt nach wie vor an konkreten Umsetzungen der Ankündigungen und an wirkungsvollen Maßnahmen.

Nach den Kosten der Energiekrise stellen Inflation und gestiegene Lohnkosten die finanziellen Herausforderungen für die Einrichtungen dar. Löhne und Sonderzahlungen schlagen mit einem Plus von durchschnittlich etwa 11,5 Prozent zu Buche. Bereits Ende 2022 wurde von verschiedenen Seiten (vgl. Drucksache 18/1363) darauf hingewiesen. Der Tarif für den öffentlichen Dienst fungiert als Leittarif für die Träger und findet praktisch durchgängige Anwendung
in den Kitas. Folglich müssen die Träger zusätzliche Mittel bereitstellen, wenn sie ihr Personal halten möchten. Die Trägerlandschaft betont deutlich, dass dies ohne Unterstützung durch das Land Nordrhein-Westfalen nicht realisierbar sein wird.

Dies gilt auch, neben der auskömmlichen Finanzierung der Kita-Landschaft, für die Sicherung und Gewinnung von neuem Fachpersonal für die frühkindliche Bildung. Das „Sofortprogramm Kita“ wird breit durch die Trägerlandschaft und die Fachverbände als nicht ausreichend bewertet. Lösung für die bestehenden Probleme sind zusätzliche finanzielle Mittel sowie die stärkere Einbindung und Forcierung von Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern. Auch der Zugang von Fachkräften aus dem Ausland sollte erleichtert und beschleunigt werden. Zudem braucht es konkrete Entlastungen für das bestehende Fachpersonal, etwa durch Verwaltungs-fachkräfte und das Aussetzen von bürokratischem Aufwand.

Die Kommunalen Spitzenverbände, Kita-Träger und Verbände machen seit Monaten deutlich, dass die von der Landesregierung getroffenen Maßnahmen nicht ausreichend seien. Es besteht akuter Handlungsbedarf. Der Zeitpunkt für bloße Ankündigung ist überschritten. Es ist fünf nach zwölf. Das Kita-System in Nordrhein-Westfalen braucht keine warmen Worte mehr, sondern eine aktive Ministerin, die handelt.

II. Beschlussfassung

Der Landtag stellt fest:

  • Die finanzielle Belastung der Kita-Landschaft in Nordrhein-Westfalen ist für viele Träger existenzbedrohend.
     
  • Das „Sofortprogramm Kita“der Landesregierung ist nicht ausreichend, um den finanziellen und personellen Herausforderungen der Träger gerecht zu werden.
     
  • Aktuelle Maßnahmen zur Sicherung des bestehenden Personals und zur Gewinnung von neuen Kräften für die Kindertageseinrichtungen sind nicht ausreichend.
     
  • Das Kinderbildungsgesetz (Kibiz) muss zeitnah reformiert werden, um den akuten Herausforderungen gewachsen zu sein und sich zukünftig krisenresilient darzustellen.


Der Landtag beauftragt die Landesregierung,

  • ein umfassendes finanzielles Rettungspaket aufzulegen, um die bestehenden Kita-Infrastruktur zu sichern.
     
  • die Dynamisierung, wie im Kinderbildungsgesetz vorgesehen, zeitnah vorzuziehen, um eine schnelle zusätzliche finanzielle Sicherheit bei den Trägern zu schaffen.
     
  • eine Task Force einzusetzen, die einen ersten Entwurf zur Reform des Kinderbildungsgesetzes zeitnah vorlegen soll. Die Kibiz-Reform muss beschleunigt werden und deutlich vor dem Jahr 2026 zu einem Abschluss kommen.
     
  • bestehende Fachkräfte zu entlasten, indem

ein modulares Aus- und Weiterbildungsprogramm mit Entwicklungsaufgaben sowie ein Anreizprogramm zum längeren Verbleib im Beruf geschaffen werden;

mit Hilfe von Alltagshelferinnen und -helfern sowie Verwaltungsfachkräften nicht-pädagogische Aufgaben in den Einrichtungen durch nicht-pädagogisches Personal erledigt werden;

zeitnah die Einstellung von multiprofessionellen Fachkräften ermöglicht wird;

mit baulichen Maßnahmen zur Lärmreduzierung beigetragen wird;

Leitungskräfte der Kitas freigestellt sowie ein Mitspracherecht beim Personaleinsatz eingeräumt werden;

Dokumentationspflichten, die nicht der pädagogischen Arbeit sowie der Verhütung von Kindeswohlgefährdung dienen, bis Ende 2024 ausgesetzt und auf Sinnhaf-
tigkeit und Effizienz überprüft werden. Klares Ziel sollte die vollständige Digitalisierung der Dokumentation bis Ende 2024 sein.

  • neues Personal für das Kita-System zu gewinnen, indem

landesseitig die Träger bei der praxisintegrierten Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern finanziell stärker unterstützt werden;

die Förderung der praxisintegrierten Ausbildung Kinderpflegerin und Kinderpfleger erneut aufgestockt wird;

der Quereinstieg für Interessierte weiter geöffnet und durch eine Quote bei Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern sowie bei auszubildenden Personen im Ver-hältnis zu Fachkräften dafür gesorgt wird, dass nicht ausreichend qualifiziertes Personal fachlich angeleitet und geführt wird.

eine schnellere und unbürokratischere Anerkennung von ausländischen Fachkräften ermöglicht wird.

  • die Betreuungskapazitäten in der frühkindlichen Bildung in Nordrhein-Westfalen auszubauen, indem

eine klare Platzausbaugarantie unter Berücksichtigung der Kostensteigerungen besteht und hierbei auch ein Schwerpunkt in sozialschwachen Räumen in NRW
gelegt wird;

die Brückenprojekte für Kinder mit Fluchterfahrung ausgebaut werden.