Gegen Antisemitismus auf Schulhöfen und in Klassenzimmern: Systematisch Prävention gegen Antisemitismus und Mechanismen der Konfliktbewältigung im Schulumfeld etablieren

I.     Ausgangslage

Die Warnungen vor erstarkendem Antisemitismus sind seit Jahren mehr als deutlich. Die Reaktionen auf den Hamas-Terror, der sich am 7. Oktober 2023 in Israel an unschuldigen jüdischen Zivilistinnen und Zivilisten in bisher nicht bekannter, menschenverachtender Weise einmal mehr Bahn brach, und die Verharmlosung des Terrors gegen Jüdinnen und Juden sind ein sehr deutliches Zeichen, dass Antisemitismus nie weg war. Nun tritt er wieder verstärkt an die Oberfläche. Das Recht auf Meinungs- und Versammlungsrecht in Deutschland wurde dazu missbraucht, um judenfeindliche Hetze zur Schau zu stellen und wieder gesellschaftsfähig zu machen.

Jüdinnen und Juden fühlen sich in Nordrhein-Westfalen bedroht

Der Antisemitismus hat vielfältige Erscheinungsformen und wird in verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen vertreten. Weit verbreitet ist der israelbezogene Antisemitismus, getarnt als Israelkritik. Falsch- und Desinformationen werden durch Soziale Medien verstärkt. Sie bilden gerade bei jungen Menschen einen Nährboden für Hass und Gewalt.

Der Bundesverband der „Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus“ e. V. (RIAS) hat antisemitische Reaktionen in Deutschland auf die Hamas-Massaker in Israel zwischen dem 7. und 15. Oktober 2023 gesammelt und ausgewertet. In dem Zeitraum wurden 202 antisemitische Vorfälle in Deutschland registriert, die sich im Wohnumfeld, auf Social-Media-Plattformen, in der Schule und am Arbeitsplatz ereigneten. Dazu gehörten Schmierereien an Wohnungen, Häusern und Geschäften von jüdischen Bürgerinnen und Bürgern und Markierungen dieser mit dem Davidstern, die auf äußerst bedrückende Weise an unsere deutsche Geschichte des Nationalsozialismus erinnern.

Dieser und viele weitere Berichte zeigen eindrücklich, dass sich jüdische Bürgerinnen und Bürger derzeit nicht sicher fühlen. Bereits vor den jüngsten Vorfällen lebten sie mit der Erwartung, dass erneut antisemitische Vorfälle passieren können.

Schulen unter Druck

Die derzeitige Gemengelage ist eine große Herausforderung für Schulen, an denen solche gesellschaftlichen Konflikte ebenfalls gegenwärtig sind und ausgetragen werden. Viele zivilgesellschaftliche Akteure berichten seit den Angriffen der Hamas auf Israel von unzähligen Hilfegesuchen aus den Schulen. Lehrkräfte sehen sich selbst mitunter nicht ausreichend handlungsfähig, um die vielen Emotionen, (Des-)Informationen und verstörenden Bilder, die Kinder und Jugendliche über soziale Medien zu sehen bekommen, hinreichend im Unterricht zu verarbeiten und im Konfliktfall angemessen und konsequent zu reagieren.

Die „Servicestelle Antidiskriminierungsarbeit Beratung bei Rassismus und Antisemitismus“ (SABRA) hat Tatorte antisemitischer Vorfälle in Nordrhein-Westfalen ausgewertet: Die meisten Vorfälle haben sich in der Schule und auf dem Schulgelände zugetragen. Eine große Mehrheit der Befragten berichtet von antisemitischen Vorfällen im Schulalltag.

Dem gegenüber steht die mangelnde Kenntnis der Schulbehörden über antisemitische Vorfälle an Schulen. In den Schulabteilungen der jeweiligen Bezirksregierung liegen Befragungen aus 2020 zufolge nur vereinzelt Kenntnis über antisemitische Vorfälle vor. Es wird erwartet, dass das Dunkelfeld demzufolge noch viel größer ist.

Sichere Lehr- und Lernorte gewährleisten

In unseren Schulen treffen Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichsten kulturellen und religiösen Hintergründen aufeinander. Schulen sind damit Orte, an denen zwar zum einen gesellschaftliche Konflikte ausgetragen werden, zum anderen aber auch gezielt präventive Arbeit geleistet werden kann.

Schule kann dem Antisemitismus nicht allein entgegentreten, aber sie ist eine zentrale Institution unseres gesellschaftlichen Selbstverständnisses. In unseren Schulen besteht die Chance, aber auch die Verantwortung, junge Menschen zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern in unserer freien, toleranten Gesellschaft und frei von Antisemitismus gegen Jüdinnen und Juden zu erziehen.

Die Sicherheit und der Schutz für jüdische Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte und schulisches Personal sowie all denjenigen in der Schule, die sich zivilgesellschaftlich solidarisch mit jüdischen Schülerinnen und Schülern zeigen oder das Existenzrecht Israels verteidigen, müssen an erster Stelle stehen. Sicherheit und Schütz müssen konsequent durch Anwendung disziplinarischer Maßnahmen bei jeglicher Form von Antisemitismus gewährleistet werden.

Schule darf kein falsch verstandener Schutzraum für Täterinnen und Täter sein. Eine Täter-Opfer-Umkehr, wie sie seit dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel von Teilen unserer Bevölkerung und der Medien betrieben wird, ist von allen Beteiligten in Schulen durch und mit Bildung entgegenzutreten. Lehrkräfte und Schulleitungen müssen stets in der Lage sein, Antisemitismus mit Sanktionen und Restriktionen entschieden Widerstand zu leisten - auch gegenüber Eltern. Dazu muss Antisemitismus als solcher erkannt, benannt und registriert werden. Wir brauchen ein aussagekräftiges Lagebild über die Situation an unseren Schulen und effektive Gegenmaßnahmen.

Unser Ziel: Antisemitismus bekämpfen und zurückdrängen

Wir Freien Demokraten begrüßen, dass das Ministerium für Schule und Bildung unmittelbar nach den Angriffen der Hamas auf Israel Material für die Lehrkräfte und die Schulen zur Verfügung gestellt hat, um die Geschehnisse im Unterricht thematisieren und einordnen zu können. Die im 10-Punkte-Plan der Landesregierung vorgestellten Maßnahmen für den schulischen Bereich sind wichtige Schritte im Kampf gegen den Antisemitismus, werden aber für ein vollständiges Zurückdrängen nicht ausreichen.

Daher ist es erforderlich, dass sich das Parlament mit dem Kampf gegen Antisemitismus an unseren Schulen befasst und gemeinsam Lösungen und Unterstützung für unsere Schulen erarbeitet. Lehrerinnen und Lehrern kommt in der Bekämpfung von Judenhass eine besondere Schlüsselfunktion in der schulischen Bildungsarbeit zu. Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, und Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger haben diese zentrale Rolle von Lehrkräften schon im Mai 2023 betont.

Die aktuellen Entwicklungen zeigen, dass die Probleme tiefgreifend sind. Damit Schule wirklich handlungsfähig ist, gesamtgesellschaftliche Wirkung zu erzielen, braucht es jetzt Aufarbeitung und ein umfassendes Konzept, welches ein systematisches Vorgehen gegen Antisemitismus im Schulsystem formuliert, damit die Vielzahl der Schülerinnen und Schüler in Nordrhein-Westfalen erreicht wird.

Begegnung und Austausch für Toleranz und ein Miteinander müssen hier in Nordrhein-Westfalen und in Deutschland stattfinden: Jüdisches Leben soll sichtbar und erlebbar sein. Austausche mit Israel etwa sind auch weiterhin ein wichtiger Bestandteil des kulturellen, religiösen und politischen Austauschs; dennoch bleibt diese Form des Austauschs selektiv, kostenintensiv und scheitert zu oft an Hürden des Schulalltags.

Wir Freien Demokraten sind fest überzeugt: Schulen sind das Herz einer aufgeklärten Demokratie. Sie müssen wirksam gegen Ausgrenzung, Hass und Gewalt und alle Erscheinungsformen des Antisemitismus arbeiten können. Wir müssen mit den vielfältigen bestehenden Angeboten alle Schulstandorte erreichen.

Dazu muss die Landesregierung Hinweisen auf Schwerpunkte antisemitischer und antidemokratischer Haltungen nachgehen, um zeitnah gezielt dort wichtige Arbeit zu leisten und Lehrkräfte sowie Schulleitungen zu unterstützen. Fortbildungsprogramme sind zwingend notwendig, damit nicht nur interveniert, sondern bestenfalls schon präventive Aufklärungsarbeit von den Lehrkräften geleistet werden kann. Niemand darf eine deutsche Schule verlassen, ohne umfassend über die unmenschlichen Verbrechen des Nationalsozialismus und die Verantwortung in Deutschland gegenüber allen Jüdinnen und Juden informiert zu sein.

II.       Beschlussfassung

Der Landtag stellt fest:

  • Antisemitische Vorfälle treten an allen gesellschaftlichen Orten auf – auch in unseren Schulen.
  • Schule ist ein zentraler Ort, an dem die Chance, aber auch Verpflichtung für präventive Bildungsarbeit besteht. Sie soll junge Menschen zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern in unserer freien, toleranten Gesellschaft, frei von Antisemitismus, erziehen.
  • Ehrenamtliches und zivilgesellschaftliches Engagement sind für das Einstehen der Gesellschaft gegen Antisemitismus von besonderer Bedeutung.
  • Nordrhein-Westfalen hat mit seiner Antisemitismusbeauftragten bereits wichtige Schritte unternommen, in verschiedenen Bereichen, unter anderem mit dem Einrichten der Meldestelle Antisemitismus, strukturell gegen Antisemitismus vorzugehen.
  • Unsere Schulen brauchen die Unterstützung der Landesregierung und des Parlaments, um Antisemitismus zu bekämpfen.

Der Landtag beauftragt die Landesregierung,

  • ein Konzept für ein systematisches Vorgehen gegen Antisemitismus und für unsere offene, zur Demokratie verpflichtete Gesellschaft im Bildungssystem zu erstellen, mit dem alle Schülerinnen und Schüler, ebenso wie alle angehenden Lehrkräfte in Nordrhein-Westfalen erreicht werden.
  • Zu diesem Zweck soll in Nordrhein-Westfalen eine Bildungsstätte errichtet werden, welche als zentraler Ausbildungsort sowohl für Schülerinnen und Schüler als auch für Referendarinnen und Referendare sowie als Fortbildungsort dient.
  • Jede Lehrkraft, die an einer Schule in Nordrhein-Westfalen unterrichtet, soll zum Beispiel dort im Rahmen der zweiten Phase der Lehrerausbildung grundlegend sensibilisiert und geschult werden, um Antisemitismus, Rassismus, Hass und Gewalt entschieden entgegen treten zu können.
  • Das Konzept soll verschiedene Dimensionen betrachten: Von der Erinnerungskultur an die Gewalttaten des Nationalsozialismus über die Gründung des Staates Israel und den Nahostkonflikt hin zu jüdischem Leben heute in Deutschland und weltweit.
  • Lehrkräfte und Schulleitungen sollen gezielt im Umgang mit antisemitischen, rassistischen und gewaltverherrlichenden Aussagen und Vorfällen geschult und gestärkt werden.
  • Schulleitungen und Schulaufsicht müssen in der Lage sein, disziplinarische Maßnahmen konsequent auch gegen Widerstände aus der Schüler- und Elternschaft anwenden zu können. Dafür muss das Land nicht nur Schulungen und Konzepte, sondern tatsächliche Unterstützung vor Ort, zum Beispiel in Form von Krisenintervention, bereitstellen.
  • sicherzustellen, dass jede Schülerin und jeder Schüler in Nordrhein-Westfalen mindestens einmal in ihrer Schullaufbahn eine Gedenkstätte zur Erinnerung an die Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus besucht hat.
  • den Besuch jeweils einer christlichen Kirche, Moschee und Synagoge für alle Schülerinnen und Schüler bis zur 10. Klasse verpflichtend zu machen.
  • die Lehrpläne in den Religionsunterrichten aller Konfessionen dahingehend zu überarbeiten, dass sie einen stärkeren Schwerpunkt auf vergleichende Religionswissenschaften und Verständigung zwischen verschiedenen Glaubensrichtungen legen.
  • Demokratieerziehung in der Schule zu stärken, auch durch Stärkung von Klassen- oder Schulräten.
  • um kurzfristig handlungsfähig zu sein, Trainings und Workshops systematisch an Schulstandorten durchzuführen, wo dringende Bedarfe festgestellt werden.
  • die Schulsozialarbeit zu stärken und auszubauen. Jede Schule braucht verlässliche und permanente Strukturen, um gegen Ausgrenzung, Hass und Gewalt, wie auch Antisemitismus vorzugehen. Die Schulsozialarbeit soll auch im Meldewesen unterstützen, um ein realistisches Bild von der Verbreitung von Antisemitismus in Schulen zu erhalten.
  • verstärkt jüdisches Leben in Deutschland sichtbar zu machen. Begegnung und Austausch soll hier bei uns in Nordrhein-Westfalen und in Deutschland gestärkt werden. Wir müssen ein Zeichen bei allen Schülerinnen und Schülern setzen und dafür hier vor Ort ansetzen, zum Beispiel mit Initiativen wie „Meet a Jew“ oder „Zweitzeugen“.
  • Schulen und Schulleitungen bei der interkulturellen Elternarbeit zu stärken.