Gesetz zur Änderung der nordrhein-westfälischen Landesverfassung betreffend Gleichwertigkeit der beruflichen und der akademischen Bildung

A Problem

Der Fachkräftemangel hat sich zu einem zentralen Problem für die wirtschaftliche Entwicklung dieses Landes entwickelt.

Unternehmen können mangels einer ausreichenden Anzahl an Fachkräften Investitionen nicht tätigen, welche zur Fortentwicklung des Unternehmens, zum Erhalt der übrigen Arbeitsplätze sowie für den Erhalt oder die Steigerung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit erforderlich sind. Benötigt werden dabei Fachkräfte unterschiedlicher Qualifikationen, sowohl akademisch als auch beruflich qualifizierte Personen.

Im öffentlichen Sektor fehlen Fachkräfte, um die staatliche Ordnung sowie die Aufgaben der Daseinsvorsorge vollumfänglich zu erfüllen. Der Fachkräftemangel in der Pflege, bei den Gesundheitsfachberufen mit beruflicher Bildung sowie den Heilberufen mit akademischer Bildung gefährdet die Gesundheitsversorgung. Bei der Umsetzung von Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels erweisen sich etwa die Anzahl der Fachkräfte bzw. die Kapazitäten im Handwerk (z.B. zur Installation von Wärmepumpen, Solaranlagen, Wärmedämmungen oder smarter Gebäudesteuerungen) zunehmend als ein investionshemmendes Nadelöhr.

Im Jahr 1992 begannen fast doppelt so viele Jugendliche eine berufliche Ausbildung als ein Hochschulstudium. Die Anzahl der Studienanfänger hat seitdem deutschlandweit um rund 70 Prozent zugenommen. Die Anzahl der Ausbildungsanfänger ist im selben Zeitraum allerdings um rund 20 Prozent zurückgegangen. Im Jahr 2020 haben erstmals mehr Jugendliche ein Hochschulstudium als eine berufliche Ausbildung aufgenommen.

Diese Entwicklung wurde auch politisch forciert. Es war lange Zeit das erklärte bildungspolitische Ziel, mehr jungen Menschen den Weg zur Hochschule zu ermöglichen. Den Schwerpunkt öffentlicher und politischer Debatten prägten und prägen deshalb vor allem Fragen rund um den Zugang und die Ausgestaltung der hochschulischen Bildung. Die Kehrseite dieser Entwicklung, nämlich der Rückgang der Berufsausbildungsanfänger, wurde in der öffentlichen und
politischen Debatte lange weitgehend ausgeblendet.

Um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, ist es daher von zentraler Bedeutung, dass sowohl akademische als auch berufliche Bildung gesellschaftliche Anerkennung erfahren und als gleichwertig anerkannt und akzeptiert werden sowie eine stärkere Durchlässigkeit zwischen unterschiedlichen Bildungswegen ermöglicht wird.

B Lösung

Die Gleichwertigkeit der beruflichen und der akademischen Bildung wird in die nordrhein-westfälischen Landesverfassung als Programmsatz aufgenommen. Dadurch soll darauf hingewirkt werden, dass staatliches und politisches Handeln in unterschiedlichen Politikbereichen diese Gleichwertigkeit stärker beachtet und mitgedacht wird.

C Alternativen

Keine.

D Kosten

Keine.

E Zuständigkeit

Zuständig ist das Ministerium für Kultur und Wissenschaft.

F Auswirkungen auf die Selbstverwaltung und Finanzlage der Gemeinden und Gemeindeverbände

Keine.

G Finanzielle Auswirkungen auf die Unternehmen und die privaten Haushalte

Keine.

H Befristung

Eine Befristung wird nicht vorgenommen.

HINWEIS: Die Gegenüberstellung (auf Seite 3 des Gesetzentwurfs) ist sichtbar und abrufbar im PDF-Format.

Begründung

Artikel I

Der Fachkräftemangel hat sich zu einem zentralen Problem für die wirtschaftliche Entwicklung dieses Landes entwickelt. Um dem entgegenzuwirken, reichen politische Einzelmaßnahmen nicht länger aus. Erforderlich ist vielmehr ein grundsätzlicher Sinneswandel, dass berufliche und hochschulische Bildung eine gleichwertige gesellschaftliche Anerkennung finden und stärker durchlässig werden.

Ein derartiger Sinneswandel soll auch Einfluss darauf nehmen, wie öffentliche und politische Debatten geführt werden. Gegenwärtig fokussieren sich viele politisch geführte Debatten auf Studierende und hochschulische Angelegenheiten, während die Belange von Auszubildenden sowie der betrieblichen Ausbildung keine ausreichende Berücksichtigung finden. Ein Beispiel ist die gegenwärtig geführte Debatte zur Kombination des Semestertickets für Studierende mit dem Deutschlandticket. In der Debatte kommt kaum zur Sprache, dass Studierende schon heute deutlich kostengünstiger den ÖPNV nutzen können als Auszubildende oder welche Möglichkeiten sich durch das Deutschlandticket ergeben, diese Ungleichbehandlung abzubauen.

Sowohl die akademische als auch die berufliche Bildung bieten Absolventinnen und Absolventen umfassende Beschäftigungs- und Entwicklungsmöglichkeiten. In Zeiten des Fachkräftemangels gewinnt daher das seit langer Zeit proklamierte bildungspolitische Ziel einer Gleichwertigkeit von akademischer als auch die beruflicher Bildung noch mehr an Bedeutung. Die Anerkennung von Gleichwertigkeit ist dabei Ausfluss der Meinungsfreiheit der einzelnen Bürgerinnen und Bürger. Insofern kann die Anerkennung gesetzlich nicht angeordnet werden und kann daher keine Rechtspflicht der Bürgerinnen und Bürger sein. Adressat einer verfassungsrechtlichen Rechtspflicht kann daher nur das Land sein, welches sich in Übernahme einer entsprechenden Regelung dafür einsetzen soll, dass in der gesellschaftlichen Praxis akademische und berufliche Bildung als in der Wertschätzung gleichwertige Bildungswege akzeptiert werden.

Derartige programmatische Regelungen finden sich in vielen Landesverfassungen und auch dem Grundgesetz. Sie sind zumeist so aufgebaut, dass der jeweilige Staat verpflichtet wird, ein verfassungsrechtlich definiertes Ziel zu unterstützen, zu fördern oder auf dessen Erreichen hinzuwirken. Ein Beispiel ist Art. 3 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes. Nach dieser Vorschrift fördert der Staat die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. Ein anderes Beispiel ist Art. 1 Abs. 3 Satz 1 der Landesverfassung NRW (LV NRW). Nach dieser Vorschrift trägt Nordrhein-
Westfalen zur Verwirklichung und Entwicklung eines geeinten Europas bei, das demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen sowie dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist, die Eigenständigkeit der Regionen wahrt und deren Mitwirkung an europäischen Entscheidungen sichert. Es handelt sich hier jeweils um klassische abstrakte Programmsätze.

Ein konkret auf die Gleichwertigkeit akademischer und beruflicher Bildung bezogenes Beispiel fehlt bislang in der Landesverfassung von Nordrhein-Westfalen, findet sich aber in Art. 61a Abs. 3 der schweizerischen Bundesverfassung.

Das Verständnis der akademischen Bildung umfasst die universitäre wie auch die nichtuniversitäre Hochschulbildung. Allgemein wird hier keine unterschiedliche Wertigkeit festgestellt, sodass mit Blick auf den Gesetzesentwurf auch beide Verfassungsrang erhalten würden.

Soweit der Bereich der beruflichen Bildung berührt ist, richtet sich die Regelung im Wesentlichen an die Landesregierung als Mitglied des Bundesrates, mit der Maßgabe sich dort für Maßnahmen zur Verbesserung der Anerkennung einzusetzen.

Bei der Frage der Durchlässigkeit von Bildungssystemen ist zwischen der Durchlässigkeit von der beruflichen hin zur akademischen Bildung sowie der Durchlässigkeit von der akademischen hin zur beruflichen Bildung zu unterscheiden.

Um die rechtlichen Voraussetzungen für die Durchlässigkeit von der beruflichen hin zur akademischen Bildung zu schaffen, wurde mit § 63a Abs. 7 des Hochschulgesetzes bereits eine transparente und rechtssichere Anerkennung von in der beruflichen Bildung vermittelten Kenntnisse und Qualifikationen hochschulrechtlich ermöglicht und damit die Gleichwertigkeit der beruflichen mit der akademischen Bildung unterstrichen. Allerdings ist trotz allem die Praxis der Anerkennung außerhochschulischer Kenntnisse und Qualifikationen derzeit immer noch zurückhaltend. Handlungsbedarf besteht allerdings darin, die Hochschulen zu ermutigen, die Praxis ihrer Anerkennung zu verstetigen und zu vertiefen. Im Gegensatz zur Lissabonner Anerkennungskonvention fehlt ein derartig übergreifendes Regularium im Bereich der beruflichen Bildung.

Demgegenüber sind die Übergänge von der akademischen in die berufliche Bildung ausweislich der Empfehlungen des Wissenschaftsrates zur Gestaltung des Verhältnisses von beruflicher und akademischer Bildung vom 11. April 2014 (Drs. 3818-14, dort S. 70) bisher Einzelfälle. Die Übergänge erfolgen in der Regel informell und innerbetrieblich organisiert im Rahmen von traineeships oder training on the job. Sinnvolle Anerkennungsregelungen fehlen; eröffnet ist allenfalls die Externenprüfung nach § 45 Abs. 2 BBiG, die allerdings Berufserfahrung voraussetzt. Anrechnungsfähig bezogen auf die Ausbildungsdauer sind nach § 7 Abs. 1 BBiG
nur der Besuch eines Bildungsganges berufsbildender Schulen oder die Berufsausbildung einer sonstigen Einrichtung. Gleiches gilt nach § 27a Handwerksordnung für den Bereich des Handwerks. Dort können im Bereich der Fortbildungsprüfungen zudem „Prüfungszeugnissedie außerhalb des Handwerks erworben worden sind, der Fortbildungsprüfung gleichgestellt werden, wenn die in der Prüfung nachzuweisenden beruflichen Fertigkeiten, Kenntnissen und Fähigkeiten gleichwertig sind. Anerkennungsfähig sind daher hier nur ganze Abschlüsse und keine Einzelleistungen innerhalb von Studiengängen.

Artikel II

Artikel II regelt das Inkrafttreten des Gesetzes.