Gesetz zur Änderung der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen

A Problem

Artikel 23 Absatz 2 der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen untersagt ein einseitiges gesetzgeberisches Abweichen von kirchenvertraglichen Bestimmungen. Die Bestimmungen der Kirchenverträge haben in Artikel 23 Absatz 2 außer der vertraglichen Sicherung eine verfassungsrechtliche Sicherung erhalten, die jede Änderung an die Zustimmung des kirchlichen Partners knüpft. Eine einseitige Änderung durch den einfachen Gesetzgeber wäre somit zugleich ein Vertrags- und Verfassungsbruch. Ein einmal abgeschlossener Staatskirchenvertrag entfaltet für die dort aufgenommenen Regelungen grundsätzlichen Charakters eine Sperrwirkung für das zukünftige (einseitige) Tätigwerden des Landesgesetzgebers. Diese über die Anforderungen des Grundgesetzes hinausgehende Bindung steht in einem Spannungsverhältnis zum Demokratieprinzip, weil es die in den Kirchenverträgen geregelten Gegenstände gegebenenfalls auf Dauer der Neubewertung durch den demokratisch legitimierten Gesetzgeber entzieht.

B Lösung

Artikel 23 Absatz 2 wird geändert. Die besondere landesverfassungsrechtliche Sicherung der Bestimmungen von Kirchenverträgen entfällt. Die verbleibende vertragliche Sicherung wird als ausreichend erachtet.

C Alternativen

Keine.

D Kosten

Keine.

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Begründung


Gemäß Artikel 23 Absatz 1 werden die Bestimmungen der Verträge mit der Katholischen Kirche und der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union, die im früheren Freistaat Preußen Geltung hatten, für die Gebiete des Landes Nordrhein-Westfalen, die zum ehemaligen Preußen gehörten, als geltendes Recht anerkannt. Nach Artikel 23 Absatz 2 ist zur Änderung dieser Kirchenverträge und zum Abschluss neuer Verträge außer der Zustimmung der Vertragspartner ein Landesgesetz erforderlich. Die Bestimmung bezieht sich ihrem Wortlaut nach auf die Änderung der alten, von der Landesverfassung vorgefundenen Verträge sowie auf den Abschluss gänzlich neuer Verträge. Nach dem Telos der Bestimmung muss sie sich aber auch auf die Änderung dieser neuen Verträge erstrecken. Diese Erstreckung überschreitet auch nicht den Wortlaut des Artikel 23 Absatz 2, da jede Vertragsänderung der Form nach wiederum nur in einem neuen (Abänderungs-)Vertrag erfolgen kann. Nach Sinn und Zweck der Norm und im Lichte der verfassungsrechtlichen Gleichstellung anderer öffentlich-rechtlicher Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften sind Verträge mit diesen ebenfalls erfasst (BeckOK Verfassung NRW/Krings, 2. Ed. 1.12.2023, NRWVerf Art. 23 Rdnr. 15).

Die Bedeutung von Artikel 23 Absatz 2 besteht zum einen in der Klarstellung, dass einseitige Eingriffe des Staates in die Kirchenverträge unzulässig sind, zum anderen in einer Ausprägung des Gesetzesvorbehalts, die über Artikel 66 Satz 2, der nur die schlichte Zustimmung des Landtags verlangt, hinausgeht (Ennuschat in: Löwer/Tettinger, Kommentar zur Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2002, Art. 23 Rdnr. 3). Zweiter Regelungsgehalt bleibt unberührt.

Artikel 23 Absatz 2 untersagt ein einseitiges gesetzgeberisches Abweichen vom Vertragsinhalt (Ennuschat in: Löwer/Tettinger, Kommentar zur Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2002, Art. 23 Rdnr. 8). Die Bestimmungen der Kirchenverträge haben in Artikel 23 Absatz 2 außer der vertraglichen Sicherung eine verfassungsrechtliche Sicherung erhalten, die jede Änderung an die Zustimmung des kirchlichen Partners knüpft. Der gesamte Vertragsinhalt ist in den Schutz der Verfassung aufgenommen. Eine einseitige Änderung wäre mithin zugleich ein Vertrags- und Verfassungsbruch (Lenz in: Geller/Kleinrahm, Die Verfassung des Landes
Nordrhein-Westfalen, 2. Auflage 1962, Art. 23 Anm. 3 b)), ein vertragswidriges späteres Gesetz nichtig (Hollerbach in: Listl/Pirson, Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band 1, 2. Auflage 1994, S. 276). Ein einmal abgeschlossener Staatskirchenvertrag entfaltet für die dort aufgenommenen Regelungen grundsätzlichen Charakters eine Sperrwirkung für das zukünftige (einseitige) Tätigwerden des Landesgesetzgebers (BeckOK Verfassung NRW/Krings, 2. Ed. 1.12.2023, NRWVerf Art. 23 Rdnr. 14). Ein einseitiges Abweichen von Kirchenverträgen im Sinne des Artikels 23 Absatz 1 ist daher nur im Wege der Verfassungsänderung möglich (Ennuschat in: Löwer/Tettinger, Kommentar zur Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2002, Art. 23 Rdnr. 8).

Soweit Lenz offenbar zur Korrektur dessen den vertragsrechtlichen Grundsatz der clausula rebus sic stantibus auch auf die Frage der Verfassungsgemäßheit eines einseitigen gesetzgeberischen Abweichens anwenden will (vgl. Geller/Kleinrahm, Die Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2. Auflage 1962, Art. 23 Anm. 3 b)), vermag dies rechtsdogmatisch nicht zu überzeugen und engt zudem den Handlungsspielraum des demokratisch legitimierten Gesetzgebers durch die Beschränkung auf Fälle der unerwarteten grundlegenden Veränderung der beim Vertragsschluss gegebenen Umstände immer noch zu weitgehend ein. Nur wenn sich die Verhältnisse, die im Zeitpunkt des Vertragsschlusses bestanden haben, mittlerweile grundlegend geändert haben und angesichts dieser Veränderung das Festhalten am Vertrag oder an einer Einzelvereinbarung innerhalb des Vertrags für den Verpflichteten unzumutbar geworden ist, ist Raum für die Anwendung des ungeschriebenen Verfassungssatzes. Die clausula entbindet nicht ohne weiteres von der unzumutbar gewordenen vertraglichen Verpflichtung oder gar von der Bindung an den Vertrag im Ganzen. Sie geht zunächst auf Anpassung des Vertrags an die veränderten Verhältnisse, unter Umständen also auf Milderung einer vertraglich übernommenen Verpflichtung und, wenn die inhaltliche Modifizierung einer vertraglich übernommenen Leistung nicht möglich erscheint, auf einen Ausgleich in Geld, soweit dies zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts der im Vertrag vereinbarten Leistungen und Gegenleistungen nötig ist (BVerfGE 34, 216 (232 f.)).

Umstritten ist des Weiteren, ob Artikel 23 Absatz 2 zudem dazu führt, einen Vorrang der Kirchenverträge vor dem einfachen Gesetzesrecht (so von Campenhausen/de Wall, Religionsverfassungsrecht, 5. Auflage 2022, § 19 Rdnr. 20; Ennuschat in: Löwer/Tettinger, Kommentar zur Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2002, Art. 23 Rdnr. 8; BeckOK Verfassung NRW/Krings, 2. Ed. 1.12.2023, NRWVerf Art. 23 Rdnr. 4) bzw. eine gegenüber nachfolgenden Gesetzen erhöhte Geltungskraft (Mückl in: Pirson/Rüfner/Germann/Mückel, Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band 1, 3. Auflage 2020, § 12 Rdnr. 45) zu statuieren (ablehnend: Unruh, Religionsverfassungsrecht, 4. Auflage 2018, Rdnr. 363).

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll die besondere landesverfassungsrechtliche Sicherung der Bestimmungen von Kirchenverträgen in Artikel 23 Absatz 2 entfallen. Die vertragliche Sicherung wird als ausreichend erachtet.

Allenfalls Artikel 8 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg sowie Artikel 67 Satz 2 der Verfassung des Landes Hessen binden den einfachen Gesetzgeber in einer Artikel 23 Absatz 2 vergleichbaren Art und Weise. Weder zugunsten von Verträgen, deren Gegenstand der Bundesgesetzgebung unterliegt, noch zugunsten von Landesverträgen, deren Gegenstand nach dem Grundgesetz der Landesgesetzgebung unterliegt, erachtet das Grundgesetz eine verfassungsrechtliche Bindung der Gesetzgebung an das Vertragsrecht für erforderlich (BVerfGE 6, 309 (363)).

Zudem steht Artikel 23 Absatz 2 in seiner derzeitigen Fassung in einem erheblichen Spannungsverhältnis zum Demokratieprinzip, das für das Land aufgrund der Homogenitätskausel des Artikels 28 Absatz 1 Satz 1 GG verbindlich ist, weil es die in den Kirchenverträgen geregelten Gegenstände gegebenenfalls auf Dauer der Neubewertung durch den demokratisch legitimierten Gesetzgeber entzieht (Morlok in Dreier, Grundgesetz-Kommentar, Band 3, 3. Auflage 2018, Art. 140 Rdnr. 51 vertritt deshalb die Auffassung Artikel 23 Absatz 2 sei bundes- verfassungswidrig; zu der zeitlichen Komponente vgl. auch BayVerfGH NJOZ 2015, 1970 (1971)). Dies wiegt angesichts des größtenteils seit vielen Jahrzehnten unveränderten Normenbestands (vgl. die Übersichten bei Heusch/Schönenbroicher, Die Landesverfassung Nordrhein-Westfalen, 2. Auflage 2020, Art. 23 Rdnrn. 1 und 2) besonders schwer.

Ohne die besondere landesverfassungsrechtliche Sicherung in Artikel 23 Absatz 2 gelten für die Bindungswirkung der Bestimmungen von Kirchenverträgen die - im Einzelnen allerdings umstrittenen - allgemeinen Regeln (zum Meinungsstand vgl. Unruh, Religionsverfassungsrecht, 4. Auflage 2018, Rdnrn. 365 bis 367). Nach herrschender Meinung begibt sich der staatliche Gesetzgeber mit dem Vertragsschluss nicht der Entscheidungsfreiheit und der Gesetzgebungskompetenz der betreffenden Materie. Dass er dem Vertrag widersprechende Gesetze zu erlassen vermag, ist eine Folge seiner Hoheit. Solche Gesetze sind auch rechtsgültig, aber der Gesetzgeber hat nicht die Kraft, den Vertrag selbst aufzuheben, dieser bleibt gültig, wenn auch verletzt. Auch im Vertragskirchenrecht gilt der Grundsatz, dass ein neueres Gesetz das ältere aufhebt (lex posterior derogat legi priori). Jedoch macht sich der Gesetzgeber des Vertragsbruchs schuldig, wenn das Gesetz mit dem Vertrag nicht übereinstimmt. Die Sanktionen gegen den Vertragsbruch richten sich nach dem jeweiligen Vertragsregime (von Campenhausen/de Wall, Religionsverfassungsrecht, 5. Auflage 2022, § 19 Rdnr. 21). Unabhängig davon, ob eine in dem vertragswidrigen Gesetz gegebenenfalls zu erblickende konkludente Kündigung des Vertrags nur im Fall eines äußersten Widerspruchs zum Staatswohl zulässig ist (von Campenhausen/de Wall, Religionsverfassungsrecht, 5. Auflage 2022, § 19 Rdnr. 21), wenn die einschlägigen Gemeinwohlbelange bzw. die staatlichen Erfordernisse überwiegen (Unruh in: von Mangold/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 140 Rdnr. 81) oder wenn nach der clausula rebus sic stantibus die Voraussetzungen gegeben sind (Korioth in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 102. EL August 2023, Art. 140 Rdnr. 26; Uhle in Stern/Sodan/Möstl, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland im europäischen Staatenverbund, 2. Auflage 2022, § 29 Rdnr. 38), ist der änderungswillige Gesetzgeber nach Treu und Glauben gehalten, vor dem Erlass kirchenvertragswidrigen Rechts die vertragsimmanenten Überprüfungs- und Revisionsmöglichkeiten auszuschöpfen (Korioth in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 102. EL August 2023, Art. 140 Rdnr. 26). Für derartige Vertragsanpassungen können namentlich die staatskirchenrechtlichen Revisions- und Freundschaftsklauseln fruchtbar gemacht werden (Uhle in: Stern/Sodan/Möstl, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland im europäischen Staatenverbund, 2. Auflage 2022, § 29 Rdnr. 38).