Gesetz zur Änderung der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen
A Problem
Junge Menschen haben großes Interesse an Politik und wollen sich an politischen Entscheidungsprozessen beteiligen, die sie, ihre Zukunft oder die Gesellschaft betreffen. Das bringen sie in vielfältiger Weise zum Ausdruck. Der zweite Demokratiebericht vom November 2023 in Nordrhein-Westfalen zeigt, dass junge Menschen zwischen 14 und 18 Jahren mit 94 Prozent eine überdurchschnittlich positive Einstellung zur Demokratie haben. Dem hohen gesellschaftlichen und politischen Engagement junger Menschen steht entgehen, dass anders als bei Kommunalwahlen und bei Europawahlen bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen Personen unter 18 Jahren nicht wahlberechtigt sind.
Die niedrige Wahlbeteiligung bei den letzten Landtagswahlen geben Anlass, für mehr Teilhabe an demokratischen Entscheidungsprozessen zu werben. Der demokratische Rechtsstaat fußt auf der Teilhabe seiner Bürgerinnen und Bürger. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, jungen Menschen frühzeitig das Wahlrecht zu ermöglichen. Jugendliche werden im Rahmen der schulischen und politischen Bildung an demokratische Prozesse herangeführt und verfügen somit über grundlegendes Wissen über die repräsentative Demokratie, sodass sie informierte Entscheidungen treffen können. Wichtig ist auch, dass junge Menschen Demokratie tagtäglich leben und erleben.
Im Jahr 2022 wurde das Mindestalter bei Europawahlen durch eine Entscheidung des Deutschen Bundestags auf 16 Jahre abgesenkt. In sieben Ländern besteht bei Landtagswahlen bereits ein aktives Wahlrecht ab 16 Jahren. Die Absenkung des Wahlalters auf das 16. Lebensjahr ist auch eine Frage der gesellschaftlichen Teilhabe. Denn junge Menschen sind in den Parlamenten unterrepräsentiert, müssen mit den Folgen der politischen Entscheidungen aber länger leben als lebensältere Menschen.
B Lösung
Für die Absenkung des Wahlalters wird die Landesverfassung dahingehend geändert, dass deutsche Staatsangehörige, die am Wahltag das 16. Lebensjahr vollendet haben, auch bei der Landtagswahl wahlberechtigt sind. Dies betrifft rund 298.000 Personen, wodurch die Gesamtzahl der Wahlberechtigten bei einer Landtagswahl von 12.794.000 um 2,3 % auf etwa 13.092.000 ansteigt. Demgegenüber soll die Wählbarkeit weiterhin Volljährigkeit voraussetzen.
C Alternativen
Beibehaltung des derzeitigen Rechtszustands.
D Kosten
Für Postdienstleistungen (Übersendung von Wahlbenachrichtigungen und Briefwahlunterlagen) muss bei 298.000 zusätzlichen Wahlberechtigten, einer angenommenen Wahlbeteiligung von 60 % und einem Briefwähleranteil von 40 % bei heutigen Portokosten im Jahr der Landtagswahl mit einem zusätzlichen Aufwand in Höhe von etwa 440.000 € gerechnet werden. Wahlbenachrichtigungen und Briefwahlunterlagen werden von den Gemeinden an die Wahlberechtigten versandt. Nach § 40 des Landeswahlgesetzes erstattet das Land den Gemeinden die Kosten der Landtagswahl. Die für Wahlberechtigte kostenfreie Rücksendung der hellroten Wahlbriefe wird unmittelbar aus dem Landeshaushalt bezahlt.
Abgesehen davon ist mit geringen Mehrkosten der Kommunen z. B. bei der Anlegung von Wählerverzeichnissen oder für die Bearbeitung von Briefwahlanträgen zu rechnen.
Den hier kalkulierten Mehrkosten von etwa 440.000 Euro stehen rund 27,3 Millionen Euro gegenüber, die für die Landtagswahl 2022 aus dem Landeshaushalt aufgebracht werden mussten.
Gesetz zur Änderung der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen
Artikel 1
Änderung der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen
In Artikel 31 Absatz 2 Satz 1 der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 28. Juni 1950 (GV. NRW. S. 127), die zuletzt durch Gesetz vom 30. Juni 2020 (GV. NRW. S. 644) geändert worden ist, wird die Angabe
„18“ durch die Angabe „16“ ersetzt.
Artikel 2
Inkrafttreten
Dieses Gesetz tritt am Tag nach der Verkündung in Kraft.
Begründung
A Allgemeines
Die Absenkung des aktiven Wahlalters bei Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen war bereits Gegenstand der Erörterungen in der vom Landtag in der 16. Legislaturperiode eingesetzen Kommission zur Reform der Nordrhein-Westfälischen Verfassung (Bericht als Landtagsdrucksache 16/12400, S. 67 ff.). Verschiedene Länder haben das Mindestalter für das aktive Wahlrecht zum Landesparlament bereits abgesenkt. Hinsichtlich der Wahlen zum Europäischen Parlament ist die Absenkung des aktiven Wahlalters zwischenzeitlich erfolgt. Auch für die Wahlen auf Bundesebene wird über eine Absenkung des aktiven Wahlalters diskutiert. Eine entsprechende mehrheitliche Empfehlung ist durch die „Kommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit“ des Deutschen Bundestages ergangen. Eine Absenkung des aktiven Wahlalters bei der Landtagswahl erfordert eine Änderung von Artikel 31 Absatz 2 Satz 1 der Landesverfassung.
B Zu den einzelnen Vorschriften
Artikel 1
Die Vorschrift zur Änderung von Artikel 31 Absatz 2 Satz 1 der Landesverfassung sieht eine Absenkung des aktiven Wahlalters bei der Landtagswahl von 18 auf 16 Jahre vor.
Rechtsgründe stehen einer Absenkung nicht entgegen. Die Länder sind an die Vorgaben des Artikels 38 Absatz 2 Grundgesetz („Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollen-det hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt.“) nicht gebunden. Sie bilden eine eigene staatliche Ebene und bestimmen demzufolge in eigener Zuständigkeit über die Ausgestaltung des Wahlrechts zu den Landtagen. Der Landesgesetzgeber hat einen Einschätzungsspielraum, unterliegt aber den bundesverfassungsrechtlichen Grenzen der Artikel 20 Absatz 2, 28 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz insoweit, als er in typisierender Weise eine hinreichende Verstandesreife zur Voraussetzung des Stimmrechts machen und zugleich dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl die ihm gebührende Geltung verschaffen muss. In den Ländern Berlin, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein hat der Landesgesetzgeber das Mindestalter für das aktive Wahlrecht zum Landesparlament einfachgesetzlich auf 16 Jahre festgelegt. In Brandenburg ist dies in der Landesverfassung geregelt, ebenso seit April 2022 in Baden-Württemberg und seit Dezember 2023 in Berlin. Nachteilige Erfahrungen aus der praktischen Anwendung dieser Regelungen sind nicht be kannt geworden.
Der Gruppe der Sechzehn- bis Achtzehnjährigen wird heute seitens der Entwicklungspsycho-logie eine größere Reife zugestanden als in der Vergangenheit. Der körperliche Reifungsprozess junger Menschen setzt früher ein. Damit geht eine Beschleunigung auch der psychischen, intellektuellen und sozialen Entwicklung einher. Viele Jugendliche organisieren sich in Jugendorganisationen und -verbänden der Religionsgemeinschaften, Hilfsorganisationen, Gewerkschaften, Parteien, sozialen Vereinigungen oder Umweltinitiativen. Zudem engagieren sich Jugendliche in Selbstvertretungsgremien insbesondere an Schulen und in den Kommunen. Außerhalb von Organisationen artikulieren Jugendliche ihre politischen Meinungen und Anliegen in vielfältiger Weise. Zahlreiche Angehörige dieser Altersgruppe müssen bereits wesentliche Entscheidungen für ihre schulische und berufliche Laufbahn treffen. An ihre Einsichtsfähigkeit und Urteilskraft werden folglich hohe Ansprüche gestellt. Demgegenüber liegen tatsächliche Anhaltspunkte, dass nicht volljährigen Wahlberechtigten ab der Vollendung des 16. Lebensjahres die erforderliche Verstandesreife bei typisierender Betrachtungsweise abzusprechen wäre, nicht vor (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2018 – 10 C 8.17, NJW 2018, 3328 (3329); VGH Mannheim NVwZ-RR 2018, 404 (407)).
Ihre Einbeziehung in den Kreis der Wahlberechtigten ist geeignet, das Politikinteresse von Jugendlichen an der Landespolitik zu steigern und zu vertiefen in einer Zeit, in der sie durch politische Bildungsangebote in den Schulen noch erreicht werden können. Informationen über die parlamentarische Demokratie, das Parteienspektrum und das Wahlsystem bei der Landtagswahl können im Zusammenhang mit der ersten Ausübung des Wahlrechts vermittelt wer-den. Die Thematisierung im Unterricht, das Angebot an politischen Veranstaltungen sowie die intensive Medienberichterstattung vor einer Landtagswahl bieten Jugendlichen u.a. die um-fangreiche Möglichkeit, sich eine politische Meinung zu bilden und auf dieser Grundlage eine abgewogene Wahlentscheidung treffen zu können. Auch werden gerade von ihnen soziale Medien genutzt, um mit politischen Inhalten und Themen in Berührung zu kommen. Jugendliche bringen sich heute zudem vermehrt aktiv in politische Debatten und den öffentlichen Meinungsbildungsprozess ein. Dazu gehören Veranstaltungen in und von Jugendverbänden, politische Diskussionsrunden oder die Ausübung der Versammlungsfreiheit.
Dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl wird durch eine Absenkung des Wahlalters stärker entsprochen. Die Partizipation junger Menschen am politischen Prozess wird in angemessenem Umfang erweitert. Zur Altersgruppe der sechzehn- bis achtzehnjährigen Deutschen gehören in Nordrhein-Westfalen rund 298.000 Personen (Stand 31. Dezember 2021 bei einer deutschen Gesamtbevölkerung von etwa 15.384.000). Derzeit können bei einer fünfjährigen Wahlperiode Jungwählerinnen und Jungwähler im ungünstigsten Fall erst in einem Alter von mehr als 22 Jahren erstmals an einer Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen teilnehmen.
Für eine Erweiterung der politischen Einflussmöglichkeiten der Sechzehn- bis Achtzehnjährigen spricht zudem, dass sich seit der letzten Absenkung des aktiven Wahlalters für Landtagswahlen von 21 auf 18 Jahre in Nordrhein-Westfalen im Jahr 1969 (Gesetz zur Änderung der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16. Juli 1969, GV. NRW. S. 535, und Gesetz zur Änderung des Landeswahlgesetzes vom 16. Juli 1969, GV. NRW. S. 536) die Zusammensetzung der Wahlbevölkerung deutlich verändert hat. Die gestiegene durchschnittliche Lebenserwartung von Frauen auf heute 82,9 und von Männern auf 78,3 Jahre hat zu einem entsprechend größeren Anteil älterer Wahlberechtigter geführt. Durch eine Absenkung des Wahlalters wird einer größeren Anzahl jüngerer Wahlberechtigter eine angemessene Beteiligung eröffnet. Schließlich trifft der Landtag für sie wichtige Zukunftsentscheidungen in allen Politikbereichen.
Das Auseinanderfallen von zivilrechtlicher Geschäftsfähigkeit mit Vollendung des 18. Lebensjahres und aktivem Wahlrecht ab dem 16. Lebensjahr stellt keinen Hinderungsgrund dar. Die §§ 107 ff. BGB stellen als Vorschriften einfachen Bundesrechts keinen rechtlichen Maßstab für die Regelung des Wahlalters dar. Ihnen wohnt auch keine maßstabsbildende Kraft für die darauf bezogene Entscheidung des Gesetzgebers inne. Die Rechtsordnung weist auch Personen unter 18 Jahren eine Vielzahl von Rechten und Pflichten zu. Einen allgemeinen Vorrang oder eine Bindungswirkung des Alters der Volljährigkeit oder gar ihrer derzeit bestehenden konkreten Festlegung durch den Bundesgesetzgeber gibt es nicht; das Bundesrecht verlangt keinen auf allen Gebieten des privaten und des öffentlichen Rechts gleich gestalteten Minderährigenschutz (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2018 – 10 C 8.17, NJW 2018, 3328 (3330)). Der vollen Geschäftsfähigkeit erst mit 18 Jahren liegt der Schutzgedanke zugrunde, junge Menschen davor zu bewahren, sich durch ggf. voreilige Vertragsabschlüsse selbst nach-haltig zu schädigen. Eine derartige Gefahr besteht bei der Ausübung des Wahlrechts, über das in vielfältiger Weise informiert wird, weder bei Kommunal- noch bei Landtagswahlen.
Artikel 2
Artikel 2 enthält die Regelung über das Inkrafttreten.