Handlungskonzept zur Unterrichtsversorgung scheitert – Ministerin setzt Scheuklappen auf
I. Ausgangslage
„Der Unterricht fällt heute aus”: Das kriegen Schülerinnen und Schüler landesweit im Schnitt für 4,7 Prozent des geplanten Unterrichts zu hören. Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs, denn jede fünfte Stunde findet nicht regulär statt. Gemäß der Unterrichtsausfallstatistik für das erste Halbjahr des Schuljahres 2023/2024 wurden nur 78,3 Prozent des geplanten Unterrichts regulär nach Stundenplan erteilt. Im letzten Schuljahr der vollständigen Erhebung vor der Corona-Pandemie lag der Wert noch bei 83 Prozent. Der Anteil von Vertretungsunterricht bei unveränderter Lerngruppe, beispielsweise ohne die Zusammenlegung von Klassen, stieg von
5,9 Prozent auf 8,1 Prozent.
Die Ergebnisse der Unterrichtsstatistik, die Schulministerin Feller am 8. April 2024 vorgestellt hat, sind für die Bildungschancen und die soziale Entwicklung der Kinder und Jugendlichen äußerst problematisch. Viel zu oft werden Schülerinnen und Schüler sich selbst überlassen oder nur beaufsichtigt. Eltern sorgen sich zu Recht, dass ihre Kinder nicht ausreichend auf Abschlüsse vorbereitet werden können.
Bei den Schülerinnen und Schülern ist der Frust ebenfalls groß. Viele fühlen sich gestresst und belastet. Es fehlt an Zeit für individuelle Zuwendung und Förderung. Schülerinnen und Schüler haben den Zustand von ausfallendem Unterricht und Vertretungsstunden bereits bei ihren Protesten Mitte März dieses Jahres deutlich zum Ausdruck gebracht. Sie wollen mit ihrer Zeit etwas Sinnvolles anfangen und nicht, wie es ein Schüler einer Essener Schule berichtet, ohne Lehrer allein in der Klasse sitzen, weil es keine Vertretung gibt.
Die Landesregierung darf die Ergebnisse daher nicht schönreden. Die Landesregierung muss beispielsweise transparent darstellen, an welchen Schulen schon im Vorfeld eine reduzierte Stundenanzahl angesetzt wurde. Auch dort, wo der Unterrichtsausfall noch geringgehalten werden kann, ist das System fragil. Diese Standorte sorgen sich, dass durch Abordnungen und restriktive Einschränkung von Teilzeitmöglichkeiten mit viel Mühe aufrecht erhaltene Strukturen zerbrechen. Kleine Grundschulsysteme sind davon besonders betroffen.
Die FDP-Fraktion hat von Beginn an die dienstrechtlichen Maßnahmen des Handlungskonzepts Unterrichtsversorgung kritisiert. Die bisher ergriffenen Maßnahmen sind nicht wirksam, sie führen nicht zu mehr erteiltem Unterricht.
Beispielsweise ist durch die bloße Versetzung von Lehrkräften an andere Schulen nicht ein einziger Lehrer mehr in unseren Schulen. Expertinnen und Experten haben unter anderem auch in einer Anhörung des Schulausschusses am 22. August 2023 eindrücklich vor den Maßnahmen gewarnt. Sie prognostizierten, dass sie mittel- und langfristig sogar einen negativen Effekt auf Stellenbesetzung und Unterrichtsversorgung haben werden. Es war die Rede von Wut und Enttäuschung der Lehrkräfte. Für Schulleitungen gebe es keine hinreichende Verlässlichkeit mehr und so auch kaum noch die Chance, ein stabiles Kollegium aufzubauen und zu halten. Die Landesregierung stellt sich jedoch taub und weigert sich, die Wirksamkeit ihrer Maßnahmen auch nur zu überprüfen. Viel Aufwand und mehr Schaden als Nutzen sind offenbar das Motto von Ministerin Feller.
Auch die Einschränkung von Teilzeitmöglichkeiten durch die Landesregierung verstärkt Überlastungssituationen, Frust und Dienstaustritte. Wie im vergangenen Jahr bereits befürchtet, steigt die Tendenz der Lehrkräfte, die unter den aktuellen Bedingungen nicht mehr arbeiten wollen, weiter an. 930 Lehrkräfte haben im Jahr 2023 gekündigt, im Vorjahr waren es 798. Die steigenden Kündigungszahlen bei Lehrkräften sind alarmierend. Zu wenig Menschen ergreifen den Lehrerberuf, gleichzeitig kehren immer mehr Menschen dem Arbeitsplatz Schule den Rücken. Ursachenforschung für die Entwicklungen bleibt von Seiten des Schulministeriums jedoch auch weiterhin aus. Ministerin Feller geht auf dem eingeschlagenen Pfad mit Scheuklappen weiter voran und wartet ab, dass sich die Situation wie von Geisterhand von selbst verbessert.
Wir Freien Demokraten fordern, dass die Landesregierung die Bedingungen ändert, unter denen Lehrkräfte in Schulen arbeiten. Dazu gehört die Unterstützung der Lehrkräfte durch Schulsozialarbeit, Schulpsychologie, Schulverwaltungsassistenz und Alltagshelfer an allen Schulstandorten. In der Anhörung des Schulausschusses am 22. August 2023 haben die Expertinnen und Experten den dringenden Bedarf nach Entlastung der Lehrkräfte und Schulleitungen bei Bürokratie und Verwaltung mit Nachdruck bekräftigt. Bei der Gestaltung der Unterstützung gilt es, den Bedarfen der Schulen flexibel entgegenzukommen. Unterstützung von außen, beispielsweise durch Supervision und Coaching, sind Instrumente auf die Schulleitungen im Sinne des Personalmanagements zurückgreifen können sollten.
Wir Freien Demokraten wollen mehr Freiheit statt Restriktion am Arbeitsplatz Schule, um den Unterricht an den Schulen in Nordrhein-Westfalen zu gewährleisten. Kreativen Ideen von Lehrern und Schulleitungen darf das Land sich nicht entgegenstellen, sondern muss vielmehr ein Klima der Ermöglichung und Schulfreiheit schaffen.
Wir fordern NRW-Schulministerin Dorothee Feller erneut auf, die „Methode Brechstange“ zu beenden und ihr Handlungskonzept Unterrichtsversorgung grundlegend zu überarbeiten. Es reicht nicht aus, die eingeleiteten erfolglosen Maßnahmen zurückzunehmen. Für einen zeitgemäßen und attraktiven Arbeitsplatz Schule braucht es Veränderung.
Die FDP-Landtagsfraktion hat bereits zahlreiche Vorschläge zur Verbesserung der Attraktivität des Arbeitsplatz Schule vorgelegt. Es ist nun an der Landesregierung, die notwendigen Reformschritte einzuleiten. Aus gegebenem Anlass beantragen wir diese erneut zur parlamentarischen Beratung.
II. Beschlussfassung
Der Landtag stellt fest:
- Das Konzept zur Sicherung der Unterrichtsversorgung der Landesregierung beinhaltet zahlreiche Maßnahmen, die die Lehrkräfte zusätzlich belasten und gleichzeitig nicht nachweislich zu mehr Unterricht führen. Dazu zählen der restriktive Umgang mit Teilzeitanträgen, Abordnungen ohne Einverständnis der Lehrkräfte und die Ausweitung des Radius des Einsatzes nach Rückkehr aus der Beurlaubung/Elternzeit.
- Immer mehr Lehrkräfte kündigen und kehren dem Lehrerberuf den Rücken.
- Der Beruf verliert durch die Maßnahmen der Landesregierung an Attraktivität.
- Verschlechterte Arbeitsbedingungen führen nicht zu mehr, sondern zu weniger erteiltem Unterricht, weil sie noch mehr belastungsbedingte Ausfälle und Kündigungen nach sich ziehen.
- Der Arbeitsplatz Schule muss zeitgemäßer und attraktiver gestalten werden, um Nachwuchskräfte und geeignete Seiteneinsteiger zu gewinnen.
Der Landtag fordert die Landesregierung auf,
- sich ein umfassendes Bild zu machen, aus welchen Gründen Lehrkräfte den Dienst quittieren oder nach dem Lehramtsstudium nicht in den Schuldienst einsteigen,
- die Gründe zu erheben, warum Junglehrer nach dem Vorbereitungsdienst den Schuldienst unmittelbar in Teil- statt Vollzeit antreten,
- zu erheben, zu wie viel mehr erteiltem Unterricht bzw. wie viel mehr besetzten Stellen die reduzierte Anzahl an Teilzeitanträgen geführt hat,
- die Gründe für die Beantragung von voraussetzungsloser Teilzeit zu erheben, zum Beispiel durch eine Befragung der Antragsteller auf freiwilliger Basis,
- die Maßnahmen zur Verschlechterung der Arbeitsplatzattraktivität zurückzunehmen: Teilzeiteinschränkungen, Abordnungen ohne Einverständnis der Lehrkräfte und Ausweitung des Radius des Einsatzes nach Rückkehr aus der Beurlaubung/Elternzeit,
- sich ein umfassendes Bild über notwendige Veränderungen bei den Arbeitsbedingungen zu machen, um diese zeitgemäßer zu gestalten, zum Beispiel durch Befragungen,
- das „Handlungskonzept Unterrichtsversorgung” um Maßnahmen zu ergänzen, die die Lehrkräfte entlasten, so unter anderem:
- Einstiegsgehälter für Seiteneinsteiger attraktiver gestalten,
- angemessene Vergütung für Vertretungslehrkräfte,
- mit passenden Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen den Eintritt sowie Verbleib im Schuldienst attraktiver machen,
- Einstellungsmöglichkeiten für Praxislehrer auf Honorarbasis schaffen bzw. auszuweiten, die einzelne Kurse übernehmen könnten, zum Beispiel mit einem Modellversuch,
- kritische Überprüfung der Lehrpläne hinsichtlich möglicher Entschlackung,
- Stellen für Schulverwaltungsassistenz ausbauen und den Einsatz ohne Einbringen von Leitungszeit und Anrechnungsstunden ermöglichen,
- Stärkung der Schulpsychologie und der Schulsozialarbeit,
- finanzielle Ressourcen für die autonome Einstellung unterstützenden Personals durch die Schulen schaffen,
- ein Konzept zu einem modernen Arbeitsplatz Schule zu entwickeln, welches unter anderem folgende Aspekte umfasst:
- Zeitgemäßes Personalmanagement statt Abordnungen,
- zeitgemäße Arbeitsplatzausstattung für Lehrkräfte,
- Stärkung der Schulleitungen hinsichtlich Entlastung bei Bürokratie und Zugriff auf Personalentwicklungsinstrumente außerhalb der behördlichen Angebote (z.B. Coaching, Supervision),
- Stärkung der Schulautonomie: mehr pädagogische, personelle und finanzielle Freiheiten für die Schulen z. B. mit mehr selbstverwaltetem Budget
- Aufwandsentschädigung in den Praxissemestern des Lehramtsstudiums, orientiert am BAföG, einführen,
- den berufsbegleitenden „Master of Education“ und Vorbereitungsdienst für alle Schulformen und Bildungsgänge ermöglichen,
- mehr Praxisbezug im Studium, damit Studierende frühzeitig eine realistische Vorstellung ihrer Tätigkeit bekommen und besser vorbereitet in den Vorbereitungsdienst eintreten,
- den Vorbereitungsdienst zeitgemäßer und passgenauer gestalten.