Jugendkriminalität in Nordrhein-Westfalen – Resignation ist keine Strategie!

Die jüngst von NRW-Innenminister Herbert Reul vorgestellten Hell- und Dunkelfeldstudien zur Kinder- und Jugendkriminalität in Nordrhein-Westfalen zeichnen ein alarmierendes Bild: Gewalt, Bedrohungen und Eigentumsdelikte durch Jugendliche nehmen deutlich zu. Hinzu kommt: Immer mehr junge Menschen tragen Messer und eine kleine Gruppe von Intensivtätern ist für einen erheblichen Teil der Delikte verantwortlich.

Die aktuelle Dunkelfeldstudie der Universität zu Köln belegt, dass mehr als ein Drittel der befragten Schülerinnen und Schüler angaben, innerhalb eines Jahres ein Eigentums- oder Gewaltdelikt begangen zu haben – ein Anstieg um über 30 Prozent im Vergleich zu 2013/15. Besonders gravierend: Die Gewaltprävalenz bei Mädchen ist fast doppelt so stark gestiegen wie bei Jungen. Parallel dazu verzeichnet die Polizeiliche Kriminalstatistik (Hellfeld) den höchsten Stand jugendlicher Tatverdächtiger seit zehn Jahren. Auch die Mehrfachtäterschaft hat zugenommen, was auf eine wachsende Gruppe von Jugendlichen mit chronisch delinquentem Verhalten hinweist.

Diese Entwicklung spiegelt sich in einem breiten gesellschaftlichen Phänomen: zunehmende Gewaltbereitschaft, sinkender Respekt vor Autoritäten und die Erosion sozialer Normen. Der negative Trend ist kein Zufall und kein statistisches Rauschen – sie ist das Ergebnis einer gefährlichen gesellschaftlichen Schieflage, die von Landesregierung bislang nicht wirksam angegangen wird.

Der Anstieg der Jugendgewalt erfordert entschlossenes Handeln, nicht symbolische Rhetorik. Es ist gut, dass die Landesregierung nun neue Zahlen erhoben und diese vorgelegt hat. Gleichzeitig muss aber auch nüchtern festgehalten werden: Harte Worte verhindern keine Straftaten. Innenminister Reul inszeniert sich zwar beständig als entschlossener „Law-and-Order“-Mann, doch die faktische Realität spricht eine andere Sprache.

Die Landesregierung reagiert bisher auf die wachsende Jugendkriminalität lediglich mit punktuellen Ankündigungen statt mit struktureller Koordination. Prävention, schulische Wertevermittlung und konsequente Sanktionierung greifen nicht ineinander. Die Folge: Respektlosigkeit, Angst und der Eindruck von Straflosigkeit nehmen zu. Seit Jahren fehlt ein verbindliches, ressortübergreifendes Konzept, das Innen-, Schul- und Jugendpolitik wirksam verzahnt. Polizei, Jugendämter und Schulen arbeiten zu oft nebeneinanderher, statt gemeinsam gegen Intensivtäter und wiederholte Gewalttaten vorzugehen. Während die Täter häufig folgenlos weitermachen, müssen die Opfer von Gewalt nicht selten die Schule wechseln.

In den wissenschaftlichen Studien finden sich Hinweise auf die Ursachen der zunehmenden Gewalteskalation: Jugendliche lehnen Regelverstöße heute deutlich weniger ab als vor zehn Jahren. Impulsivität und Gewaltakzeptanz nehmen zu. Viele erfahren körperliche Gewalt durch die Eltern. Fast die Hälfte der befragten Mädchen berichtet von Symptomen von Angst und Depression. Der Konsum von Sozialen Medien betrifft im Durchschnitt sechs Stunden täglich, dabei sind dort Gewaltdarstellungen und gruppenbezogene Online-Aggressionen weit verbreitet. Gleichzeitig ist das Vertrauen in die schulische Intervention stark gesunken.

Diese Befunde sind Ausdruck einer gesellschaftlichen Krise der Wertevermittlung. Sie zeigen, dass fehlende Orientierung und mangelnde Bindung an Schule, Familie und Gesellschaft Gewaltverhalten begünstigen. Es bedarf daher umgehend einer breiten Diskussion, wie diesen Entwicklungen entgegenzutreten ist, wie Prävention und Repression verzahnt werden können, wie spürbare und schnelle Konsequenzen gestaltbar sind, wie Konsequenz gegenüber Mehrfach- und Intensivtäter gelebt werden kann, wie Werte und Medienkompetenz vermittelt werden kann und wie organisatorisch und operational die beteiligten Ressorts, Behörden und Einrichtungen vernetzt werden müssen.

Die vorliegenden Studien zeigen ein realistisches, kein hoffnungsloses Bild. Die Mehrheit der Jugendlichen in Nordrhein-Westfalen lebt gesetzestreu, empathisch und friedlich. Doch eine wachsende Minderheit driftet ab: in Gewalt, Respektlosigkeit oder digitale Enthemmung. Dieser Trend darf nicht weiter ignoriert werden. Nordrhein-Westfalen muss sich ehrlich fragen, wie viel Freiheit, wie viel Verantwortung und wie viel Halt jungen Menschen heute tatsächlich vermittelt werden. Und Gesellschaft und Politik müssen sich ehrlich fragen, welchen Anteil sie an diesen Entwicklungen haben und wie dies anzugehen ist. Aus diesen Gründen muss sich der Landtag Nordrhein-Westfalen im Rahmen einer Aktuellen Stunde mit den Erkenntnissen aus den vorgelegten Studien umfassend auseinandersetzen und diese diskutieren.