Keine Sperrklausel durch die Hintertür: Verändertes Wahlverhalten der Bürgerinnen und Bürger darf nicht mit Einschränkungen der demokratischen Willensbildung in Kommunalparlamenten beantwortet werden.

I. Ausgangslage

Die Demokratie lebt und entwickelt sich weiter, wenn die unterschiedlichen Stimmen innerhalb ihrer Gesellschaft nicht nur gehört, sondern auch in den demokratischen Vertretungen repräsentiert werden. Parteien kommt die zentrale Aufgabe zu, an dieser Willensbildung mitzuwirken und die Teilnahme der Bürgerinnen und Bürger am politischen Prozess zu fördern. Seit einigen Jahren lässt sich beobachten, dass infolge der sinkenden Bindung an etablierte Parteien auch regelmäßig neue Parteien und Wählervereinigungen an dieser Willensbildung mit- wirken und Mandate gewinnen. Auch Kleinparteien kommt dabei eine Rolle zu, indem sie die unterschiedlichen Gruppierungen innerhalb der Gesellschaft repräsentieren und in das politische System integrieren. Die Wahlergebnisse der jüngsten Europawahl unterstreichen eine wachsende politische Pluralität innerhalb unserer Gesellschaft. So traten bei der Europawahl insgesamt 35 Parteien zur Wahl an, 14 zogen aus Deutschland in das Europäische Parlament ein. Bei der ersten Europawahl 1979 waren es gerade einmal fünf Parteien aus Deutschland. Vor allem jüngere Wähler waren bereit, kleine Parteien zu wählen. In der Gruppe der 16- bis 24-Jährigen wählten 29 Prozent eine kleinere Partei.

Diese Entwicklung einer wachsenden Vielfalt an Parteien, Wählervereinigungen und Einzelbewerbern zeigte sich schon bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen. Dass eine wachsende Zahl von Kleinparteien, Wählervereinigungen und Einzelvertretern in kommunale Vertretungen eingezogen ist, ist daher eine logische Folge eines veränderten Wahlverhaltens und Abbild der politischen Willensbildung.

Der demokratische Prozess der Willensbildung und der Entscheidungsfindung wird durch eine größere Vielfalt oftmals intensiver und schwieriger. Ein konkreter Nachweis für eine hierdurch ausgelöste Gefährdung der Funktionsfähigkeit der kommunalen Parlamente konnte bislang allerdings nicht erbracht werden Dass es nach dem Wegfall der 5 %-Sperrklausel durch eine gestiegene Zahl von Kleingruppen und Einzelmandatsträgern zu Funktionsstörungen kommunaler Volksvertretungen oder zumindest zu Entwicklungen gekommen wäre, die Funktionsstörungen möglicherweise zur Folge haben könnten, wird zwar behauptet, nicht aber in nachvollziehbarer Weise anhand konkreter empirischer Befunde belegt. Die in diesem Zusammenhang stehenden Versuche, Kleinparteien an der demokratischen Mitwirkung in Kommunalparlamenten zu hindern, sind mehrmals vor dem Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen gescheitert. Dieser hat bereits 1999 entschieden, dass eine Fünf-Prozent-Hürde bei den Wahlen für Kreistage, Stadt- und Gemeinderäte die Wahlrechtsgleichheit verletzt. Eine in der Landesverfassung verankerte 2,5-Prozent-Hürde wurde aus denselben Gründen vom Verfassungsgerichtshof im Jahr 2017 verworfen.

Vor diesem Hintergrund sendet die Gesetzesänderung mit einem neuen Sitzverteilungsverfahren sowie die noch ausstehende Gesetzesänderung auf Basis des Antrags der Fraktionen von CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 25. Januar 2024 (Drs. 18/7768, Seite 4) mit der beabsichtigten Einführung neuer Mindestgrößen für die Fraktionsbildung ein verheerendes Signal an die kommunale Demokratie aus, indem sie die Repräsentation und Arbeitsmöglichkeiten von Parteien, Kleinparteien und Wählervereinigungen in kommunalen Parlamenten stark einschränkt.

Abkehr von dem Sainte-Laguë/Schepers-Verfahren

2009 wurde das Sainte-Laguë/Schepers-Verfahren nach einer Änderung des Bundeswahlgesetzes erstmals bei der Ermittlung der Sitzverteilung nach einer Bundestagswahl eingesetzt, weil es gegenüber den früher eingesetzten Auszählverfahren nach d’Hondt (1949–1981) und dem Auszählverfahren Hare/Niemeyer (1985–2005) laut wissenschaftlichen Untersuchungen besser den Wählerwillen abbildet. Bei den Kommunalwahlen 2009 wurde in Nordrhein-Westfalen das zuvor gültige Stimmenverrechnungsverfahren von Hare-Niemeyer durch das Divisorverfahren mit Standardrundung nach Sainte-Laguë/Schepers ersetzt. In der Begründung wurde festgestellt, dass dieses anerkanntermaßen zu einer noch besser austarierten Verteilung der Sitze führe (Drs. 14/3977, Seite 37). Die besondere Eignung von Sainte-Laguë/Schepers wurde auch in einer Anhörung des Bayerischen Landtags aus dem Jahre 2017 wiederholt festgestellt. Sainte-Laguë/Schepers bilde den Wählerwillen bestmöglich ab und komme der verfassungsrechtlichen Vorgabe nach der Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen am nächsten.

Dem steht die unbelegte Behauptung im Änderungsantrag der Fraktionen von CDU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN entgegen, bei der Verwendung Sainte-Laguë/Schepers träten „regelmäßig Fallkonstellationen auf, bei denen es zu extremen Verzerrungen der Sitzzuteilung zu Gunsten von Parteien und Wählergruppen kommt, die aufgrund ihres Wahlergebnisses einen Idealanspruch von weit weniger als einen Sitz aufweisen“ (Drs. 18/9089, Seite 3). In dem Antrag wird vorgeschlagen, dem durch eine Gewichtung des Idealanspruchs abzuhelfen, bei der der Idealanspruch geteilt wird durch seine um 1 vergrößerte Ganzzahl. Nun erhält zuerst die Partei mit dem größten gewichteten Idealanspruch einen weiteren Ratssitz, dann die mit dem zweitgrößten usw.

Man kann die systematische Schwäche dieses Vorschlags wie folgt darstellen. Gegeben eine Großpartei mit Ganzzahl G des Idealanspruchs und eine Kleinpartei mit einem Idealanspruch K,x. Damit die Kleinpartei vor der Großpartei einen weiteren Ratssitz erhalten kann, muss gelten

F o r m e l   i m  D o w n l o a d  e i n s e h -   u n d   a b r u f b a r 

was gleichbedeutend ist mit

F o r m e l   i m  D o w n l o a d  e i n s e h -   u n d   a b r u f b a r 

Auf diese Weise führt das neue Verfahren zu einer nicht nachvollziehbaren Gewichtung von Wählerstimmen. Bei einer größeren Partei mit einer Ganzzahl von 15 ist eine einzige Wählerstimme über die Ganzzahl hinaus mehr wert als ein Bruchteilmandat von 0,75 bei einer Partei mit einem Idealanspruch von 3,75 Mandaten ( 0,75 = (15 – 3)/16 ). Die eine zusätzliche Stimme mehr schiebt die 15er-Partei bei der Vergabe der weiteren Ratssitze vor die Partei mit dem Idealanspruch von 3,75. Selbst bei einem Idealanspruch von 12,581 Mandaten einer Partei fällt diese in der Zuteilung eines weiteren Ratssitzes hinter eine größere Partei mit Ganzzahl 30 zurück, wenn diese nur eine einzige Wählerstimme über die Ganzzahl hinaus erhalten hat.

In Ermangelung der Vorlage einer empirischen Grundlage der antragsstellenden Fraktionen wurde auf Basis der zur Verfügung stehenden Daten der Ergebnisse der Kommunalwahl 2020 eine Annäherung der Umsetzung des neuen Sitzzuteilungsverfahrens auf die Räte und Kreistage errechnet. Im Saldo verlieren Kleinparteien 40 Mandate und Wählervereinigungen 91 kommunale Mandate. Die FDP verliert 95 Mandatsträger, DIE LINKE 64 und die AfD 29. Die einzigen Profiteure der neuen Berechnung sind bei Anwendung auf die Ergebnisse der Kommunalwahl 2020 die antragstellenden Fraktionen von CDU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die CDU gewinnt insgesamt 184 Mandatsträger in Räten kreisangehöriger Städte und Mandatsträger in Kreistagen/Räten kreisfreier Städte hinzu, die SPD 84, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 51. Durch eine systematische Benachteiligung von Kleinparteien, Wählergemeinschaften und etablierten Parteien wird der Wählerwille zu Gunsten der Antragsteller verzerrt. Im Kern handelt es sich um die Einführung einer Sperrklausel durch die Hintertür.

Kleine Parteien, die bislang eine Fraktion oder Gruppe bilden konnten, verlieren durch die Verringerung ihrer Mandatszahlen durch das neue Sitzzuteilungsverfahren Einfluss auf die politischen Entscheidungen und die Arbeit des Rates aufgrund geringerer Ausstattung mit Rechten und Ressourcen. Das neue Sitzzuteilungsverfahren hätte dabei bei Umrechnung auf das Kommunalwahlergebnis 2020 folgende näherungsweise Auswirkungen: In den Gemeinderäten verlören 111 Gruppierungen ihren Fraktionsstatus (alle werden zu Einzelmandatsträgern) und 64 Einzelmandatsträger kämen nicht mehr in den Rat. Von diesen 175 Schlechterstellungen entfielen nur zwei auf die antragstellenden Parteien CDU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. In den Kreistagen und Räten der kreisfreien Städte verlören 15 Gruppierungen ihren Fraktionsstatus (13 würden zu Gruppen, 2 zu Einzelmandatsträgern), 20 Gruppen würden zu Einzelmandatsträgern und 28 Einzelmandatsträgern kämen nicht mehr ins Gremium. Von diesen 63 Schlechterstellungen entfiele keine auf die antragstellenden Parteien CDU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Anpassung der Mindestgrößen für Fraktionen

Am 25.01.2024 hat der Landtag den Antrag „Kommunale Demokratie und kommunales Ehrenamt als Fundament unserer freiheitlichen Demokratie stärken“ beschlossen, der unter anderem eine nach der Größe der Kommunalvertretung stärker differenzierte Untergrenze für die Fraktionsbildung nach dem Vorbild eines Antrags aus der 16. Wahlperiode (Drs. 16/12363) vorsieht (Drs. 18/7768, Seite 4). Ein entsprechender Gesetzentwurf liegt noch nicht vor. Die Kombination des neuen Sitzzuteilungsverfahrens mit einer Anhebung der Mindestgröße für Fraktionen wird die Teilhabe von Kleinparteien und Wählervereinigungen an der Ratsarbeit in erheblichem Maße erschweren. In Räten mit mehr als 50 Ratsmitgliedern soll eine Ratsfraktion sodann aus mindestens drei Mitgliedern, bei mehr als 74 Ratsmitgliedern aus mindestens vier Mitgliedern, bei mehr als 90 Ratsmitgliedern aus mindestens fünf Mitgliedern und in einer Bezirksvertretung aus mindestens zwei Mitgliedern bestehen (Drs. 16/12363, Seite 11). Bei Kreistagen mit mehr als 50 Kreistagsmitgliedern muss eine Kreistagsfraktion aus mindestens drei Mitgliedern und bei mehr als 74 Kreistagsmitgliedern aus mindestens vier Mitgliedern bestehen (Drs. 16/12363, Seite 24).

Unter Berücksichtigung der beabsichtigen neuen Mindestgrößen käme es zu einer zusätzlichen Verschärfung. In den Gemeinderäten verlören sodann 157 Gruppierungen ihren Fraktionsstatus (46 würden zu Gruppen, 111 zu Einzelmandatsträgern) und 64 bisherige Einzelmandatsträger kämen nicht mehr in den Rat. Von diesen 221 Schlechterstellungen entfielen nur zwei auf die Parteien der antragstellenden Fraktionen CDU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. In den Kreistagen und Räten der kreisfreien Städte verlören 36 Gruppierungen ihren Fraktionsstatus (34 würden zu Gruppen, zwei zu Einzelmandatsträgern), 20 Gruppen würden zu Einzelmandatsträgern und 28 bisherige Einzelmandatsträgern kämen nicht mehr in den Rat bzw. in den Kreistag. Von diesen 84 parlamentarischen Schlechterstellungen entfiele keine auf die Parteien der antragstellenden Fraktionen CDU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Verfassungsrechtliche Bedenken

Das Erodieren der Parteienlandschaft an den Rändern und eine zunehmende Fragmentierung der politischen Strömungen in den Kommunalvertretungen regt seit einigen Jahren die Fantasie der Befürworter einer Sperrklausel immer wieder neu an (vgl. Meyer NVwZ 2018, 172 (173)). Der Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen hat zuletzt mit Urteil vom 21.11.2017 eine verfassungsunmittelbare Sperrklausel für die Gemeinderäte und Kreistage als verfassungswidrig verworfen (NVwZ 2018, 159 ff.). Von den kommunalpolitischen Vereinigungen KPV und SGK wurde daher frühzeitig im Gesetzgebungsverfahren auf „alternative Überlegungen“ zu einer Sperrklausel hingewiesen, bei denen es um den Erfolgswert der jeweils abgegebenen Stimme gehe (APr 18/546, Seite 32).

Jedoch wirft auch die hier von CDU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN infolgedessen beantragte Änderung des Verfahrens zur Sitzzuteilung bei den Kommunalwahlen in verfassungsrechtlicher Hinsicht Bedenken auf. Mit dem Änderungsantrag soll ein Quotenverfahren mit prozentualem Restausgleich eingeführt werden. Nachdem zunächst jede Partei oder Wählergruppe mindestens ihren abgerundeten Idealanspruch zugeteilt bekommt, werden die dann noch zu vergebenden Restsitze nach dem größten prozentualen Rest verteilt.

Ziel der Änderung soll sein, die Erfolgswertgleichheit der Stimmen gegenüber dem bisher angewandten Divisorverfahren mit Standardrundung nach Sainte-Laguë/Schepers zu verbessern, indem extreme Verzerrungen der Sitzzuteilung zu Gunsten von Parteien und Wählergruppen, die aufgrund ihres Wahlergebnisses einen Idealanspruch von weit unter einem Sitz aufweisen, reduziert werden. Bisher träten bei Fehlen einer formellen Sperrklausel regelmäßig Fallkonstellationen auf, in denen ein Idealanspruch von wenig mehr als einem halben Sitz zu einem ganzen Sitz aufgerundet wird. Infolgedessen werde Stimmen für die Wahlvorschläge nahezu der doppelte Erfolgswert im Vergleich zu der durchschnittlich notwenigen Stimmenzahl zugewiesen (Drs. 18/9089, Seite 3).

Grundsätzlich folgt aus der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs eine Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers hinsichtlich der Wahl des Verfahrens zur Sitzzuteilung, die aus der Tatsache, dass die gängigen Berechnungsverfahren allesamt in einem gewissen Maß zu Ungleichgewichtigkeiten führen, zu begründen ist (vgl. VerfGH NRW, NVwZ 2009, (449)).
Bei dem beantragten Quotenverfahren mit prozentualem Restausgleich handelt es sich um eine Modifizierung des Verfahrens Hare/Niemeyer.

Modifizierungen im Berechnungssystem sind zulässig, wenn sie sachlich gerechtfertigt sind. Eine Modifizierung, die ihrerseits zu einer Erfolgswertungleichheit führt, erweist sich danach als verfassungskonform, soweit sie darauf zielt, eine im Berechnungsverfahren angelegte, aber über das Normalmaß hinausgehende Ungleichgewichtigkeit zu beseitigen (VerfGH NRW, NVwZ 2009, 449 f.). Der weite Entscheidungsspielraum, den das Grundgesetz dem Gesetzgeber bei der Gestaltung des Wahlrechts einräumt, ist aber nicht unbeschränkt. Der Gesetzgeber ist vielmehr verpflichtet, das ausgewählte Wahlsystem ungeachtet verschiedener Ausgestaltungsmöglichkeiten in seinen Grundelementen folgerichtig zu gestalten, und er darf keine strukturwidrigen Elemente einführen (VerfGH NRW, NVwZ 2018, 159 (163)).

Diesen Anforderungen wird das in dem Änderungsantrag vorgesehene Sitzzuteilungsverfahren nicht gerecht. An einer sachlichen Rechtfertigung fehlt es, weil die im Berechnungsverfahren angelegte Ungleichgewichtigkeit des Erfolgswerts weiter fortbesteht bzw. sich sogar vergrößert. Aufgrund der selektiven Betrachtung lediglich der Erfolgswerte größer 1 im Rahmen der Restsitzvergabe wird durch das beantragte Sitzzuteilungsverfahren gerade nicht verhindert, dass die Erfolgswerte der Stimmen für Wahlvorschläge um nahezu das Doppelte differieren können. Zudem fehlt es aufgrund dieser nicht gerechtfertigten Differenzierung im Erfolgswert an der folgerichtigen Ausgestaltung des Sitzzuteilungsverfahrens.

Dies soll anhand des folgenden Beispiels erläutert werden:

Ein Restsitz ist zu verteilen. Partei A hat einen Idealanspruch von 19,1 Sitzen. Partei B hat einen Idealanspruch von 1,9 Sitzen. Nach dem vorgeschlagenen Sitzzuteilungsverfahren erhielte Partei A den Restsitz, da deren Erfolgswert bei 20 Sitzen mit 1,047 vom Idealwert 1 geringer abweicht als der Erfolgswert von 1,053 von Partei B im Falle der Zuteilung des 2. Sitzes. Der Erfolgswert der Stimmen für Partei B läge damit bei 0,526 und somit lediglich bei 50,2% des Erfolgswertes der Stimmen für Partei A. Im Falle der nach dem bisherigen Sitzzuteilungsverfahren mit dem Ergebnis von 19 Sitzen für Partei A und 2 Sitzen für Partei B lägen die Erfolgswerte der Stimmen mit 0,995 (Partei A) und 1,053 (Partei B) insgesamt signifikant näher am Idealwert von 1.

Auch das Beispiel, mit dem die antragstellenden Fraktionen die Notwendigkeit einer Abweichung vom Verfahren Sainte Laguë/Schepers begründen (Drs. 18/9089, Seite 3), zeigt, dass die Erfolgswertgleichheit durch deren Vorschlag gegenüber dem Verfahren Sainte-Laguë/Schepers verschlechtert wird. Partei 1 hat einen Idealanspruch e(1) = 0,55 und Partei 2 einen Idealanspruch e(2) = 19,3, und es geht um die Frage, ob die Parteien 1 und 19 Mandate erhalten sollen oder 0 und 20. Die Antragsteller favorisieren 0 und 20.

Die Abweichung ΔE von der Erfolgswertgleichheit unter Verwendung der Idealansprüche e(i) der Parteien lässt sich schreiben als

F o r m e l   i m  D o w n l o a d  e i n s e h -   u n d   a b r u f b a r 

Dabei ist S die Anzahl der abgegebenen gültigen Stimmen, s(i) die von diesen auf Partei P(i) entfallenden Stimmen und m(i) die vom Sitzzuteilungsverfahren an Partei P(i) vergebenen Mandate. M ist die Gesamtzahl der Mandate in der Gemeindevertretung.

Bei der ersten Alternative (1 und 19) leisten die Parteien 1 und 2 also den folgenden Beitrag zu ΔE

( M / S ) ( 0,368 + 0,005 ) = 0,373 ( M / S ),

während es bei der zweiten Alternative (0 und 20) der folgende ist:

ΔE = ( M / S ) ( 0,550 + 0,025 ) = 0,575 ( M / S ).

Die von den Parteien 1 und 2 verursachte Abweichung von der Erfolgswertgleichheit ist also bei der von den Antragstellern bevorzugten zweiten Alternative um das 1,543-fache größer als bei der ersten (1,543 = 0,575 / 0,373). Die von den Antragstellern aufgestellte Behauptung (Drs. 18/9089, Seite 3), dass das von ihnen vorgeschlagene Verfahren „im Hinblick auf die Erfolgswertgleichheit der Stimmen vorzugswürdig“ sei, lässt sich also an ihrem eigenen Beispiel nicht nachvollziehen – es führt zu einer Verschlechterung der Erfolgswertgleichheit.

Die Divisormethode nach Sainte-Laguë/Schepers ist jedenfalls in der Variante mit Standardrundung und einem im iterativen Verfahren gefundenen Divisor (Sainte-Laguë/Schepers) diejenige Methode, die die Erfolgswertunterschiede der Wählerstimmen auf einem denkbaren Minimum hält, also dem Gebot der Erfolgswertgleichheit am nächsten kommt (Pukelsheim ZfP 47 (2000), 239 ff.).

Im Ergebnis wirkt sich das Quotenverfahren mit prozentualem Restausgleich durch die selektive Betrachtung lediglich der Erfolgswerte größer 1 im Rahmen der Restsitzvergabe als systematische Benachteiligung kleinerer Parteien aus, da bei diesen naturgemäß die prozentualen Abweichungen sowohl nach oben als auch nach unten deutlicher ausschlagen, für die Zuteilung der Restsitze aber lediglich die Abweichungen der Erfolgswerte größer 1 betrachtet werden. Bei Letzterem handelt es sich – da bereits eine Modifizierung des anerkannten Verfahrens Hare/Niemeyer - auch nicht um eine systembedingte Differenzierung im Erfolgswert.

Bei der Prüfung, ob eine Differenzierung im Bereich des Erfolgswerts zulässig ist, ist grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen. Danach bedürfen Differenzierungen zu ihrer Rechtfertigung stets eines besonderen, sachlich legitimierten, „zwingenden” Grundes. Hierzu zählt insbesondere die Verwirklichung der mit der Wahl verfolgten Ziele. Dazu gehören die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorganges bei der politischen Willensbildung des Volkes und die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung (VerfGH NRW, NVwZ 2009, 449). Es ist nicht Aufgabe der Wahlgesetzgebung, die Bandbreite des politischen Meinungsspektrums zu reduzieren. Vielmehr ist die Offenheit des politischen Prozesses zu wahren. Dazu gehört, dass kleinen Parteien und Wählervereinigungen die Chance eingeräumt wird, politische Erfolge zu erzielen. Aber auch unabhängig davon
vermag das Ziel, einen gemessen am Wahlerfolg überproportionalen Einfluss der Vertreter kleiner Parteien und Wählervereinigungen sowie von Einzelbewerbern auf Entscheidungen zu verhindern, eine Beschränkung der Wahl- und Chancengleichheit nicht zu rechtfertigen (VerfGH NVwZ 2018, 159 (169)).

Ein zwingender Grund für die Betrachtung lediglich der Erfolgswerte größer 1 bei der Zuteilung der Restsitze ist von den Antragstellern weder dargelegt noch sonst ersichtlich. Insbesondere stellt der Umstand, dass bei Fehlen einer formellen Sperrklausel regelmäßig Fallkonstellationen auftreten, in denen ein Idealanspruch von wenig mehr als einem halben Sitz zu einem ganzen Sitz aufgerundet wird, keinen zwingenden Grund im Sinne der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung dar. Dass Zahlenbruchteile auch weit unterhalb des Idealanspruchs von 1 zur Zuteilung eines Sitzes führen können, bewegt sich im normalen Rahmen der nach den Verfahren Hare/Niemeyer und Sainte-Laguë/Schepers systemimmanent vorgegebenen Ungleichgewichtigkeiten. Die Antragsteller haben im Gesetzgebungsverfahren nicht geltend gemacht, dass die Modifizierung des Verfahrens Hare/Niemeyer zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Kommunalvertretungen erforderlich sei. Sie haben sich in der gemeinsamen Sitzung des Innenausschusses, des Ausschusses für Heimat und Kommunales sowie des Hauptausschusses am 27.06.2024 davon sogar ausdrücklich distanziert (vgl. APr 18/625). Soweit der Aspekt der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Kommunalvertretungen während der parlamentarischen Beratungen als möglicher Rechtfertigungsgrund angesprochen worden ist (vgl. Stellungnahme 18/1403, Seite 1; APr 18/546, Seiten 11 und 33; Stellungnahme 18/1529, Seite 3), werden die Erörterungen den vom Verfassungsgerichtshof aufgestellten Anforderungen an die Annahme einer Funktionsstörung oder Funktionsunfähigkeit schon im Ansatz nicht gerecht. Vielmehr zeigen sie mit der Forderung nach einer Neudefinition der Funktionsfähigkeit eine bewusste Abkehr von den von dem Verfassungsgerichtshof für die Darlegung einer drohenden Funktionsstörung oder Funktionsunfähigkeit geforderten Voraussetzungen.

Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs reicht die durchaus plausible Erwägung, dass es in aller Regel zu einer schwerfälligeren Meinungsbildung führt, wenn in einer Kommunalvertretung ein erweiterter Kreis von Fraktionen, Gruppen und Einzelmandatsträgern mitwirkt, nicht aus. Diese Schwerfälligkeit in der Meinungsbildung darf der Gesetzgeber nicht mit einer Funktionsstörung oder Funktionsunfähigkeit gleichsetzen. Vielmehr sind weitergehende Feststellungen zu treffen, bevor die Funktionsfähigkeit der kommunalen Vertretungskörperschaften als gefährdet angesehen werden kann. Denn Demokratie setzt das Aufeinandertreffen verschiedener Positionen und das Finden von Kompromissen voraus. Nicht jeder Konflikt und nicht jede politische Auseinandersetzung in den Kommunalvertretungen kann als Störung der Funktionsfähigkeit angesehen werden (VerfGH NRW, NVwZ 2018, 159 (164)).

Der Versuch der Antragsteller, nachdem der Verfassungsgerichtshof mit Urteil vom 16.12.2008 eine Regelung, die eine Sitzzuteilung unterhalb eines Idealanspruchs von 1 rechtlich ausschließt, für verfassungswidrig erklärt hat (NVwZ 2009, 449 ff.), durch die Modifizierung eines anerkannten Zuteilungsverfahren die Zuteilung eines Sitzes unterhalb eines Idealanspruchs von 1 nunmehr zumindest faktisch weitestgehend zu unterbinden, begegnet daher ebenso verfassungsrechtlichen Bedenken.

Zusammenfassung

Das Kommunalwahlgesetz muss sowohl den Grundsatz der gleichen Wahl als auch das Recht auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb berücksichtigen. Der Grundsatz der gleichen Wahl sichert, dass jede Stimme der Bürgerinnen und Bürger auch eine gleiche Wirkung erzielen kann, die dann wiederum in der kommunalen Arbeit im Alltag zur Geltung kommt. Der Grundsatz der Chancengleichheit verlangt, dass jeder Partei, jeder Wählergruppe und ihren Wahlbewerbern und -bewerberinnen grundsätzliche die gleichen Möglichkeiten im gesamten Wahlverfahren und damit gleiche Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden. Die beabsichtigten Änderungen von CDU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bergen daher das Risiko, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die kommunale Demokratie zu beschädigen. Statt die eigene Politik zu überdenken, scheinen die antragsstellenden Fraktionen eher geneigt, das Wahlrecht zu modifizieren, um Kleinparteien, aber auch etablierte Parteien aus den kommunalen Parlamenten zu verdrängen oder ihre Mitgestaltungsmöglichkeiten einzuschränken. Die näherungsweisen Berechnungen zeigen, dass genau dies sowohl durch das neue Sitzzuteilungsverfahren als auch durch die neuen Untergrenzen für Fraktionen in systematischer Weise geschehen wird. Dies ist insbesondere eine verheerende Botschaft an die jungen Wählerinnen und Wähler, die – wie die Europawahl gezeigt hat – eine gewisse Präferenz für kleine Parteien haben. Dies widerspricht in erheblichem Maße dem selbstgesetzten Anspruch von CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, politische Teilhabe junger Menschen zu stärken.

Der Gesetzgeber ist angehalten eine Politik zu verfolgen, die die Stimmen aller Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen respektiert und einbezieht. Dies ist nicht nur eine Frage der Fairness, sondern auch ein wesentlicher Bestandteil der demokratischen Integrität, die es zu bewahren gilt. Der Änderungsantrag steht der Erreichung dieser Ziele entgegen. Konkretisierungen der Arbeitsfähigkeit von Kommunalparlamenten müssen über die jeweilige Geschäftsordnung geregelt werden, nicht durch systematische Benachteiligung von kleineren politischen Gruppierungen bei der Sitzzuteilung und durch die Beschneidung von Minderheitenrechten.

II. Beschlussfassung

Der Landtag stellt fest:

  • Insbesondere eine kommunale Vertretung sollte idealerweise die städtische Gesellschaft in ihrer gesamten Vielfalt abbilden und so dem Grundsatz der Pluralität folgen.
  • Das Sitzzuteilungsverfahren nach Sainte-Laguë/Schepers hat sich auch für die kommunalen Vertretungen bewährt, da es anerkanntermaßen den Wählerwillen bestmöglich abbildet.
  • Veränderungen in der Wahlpräferenz dürfen durch den Gesetzgeber nicht mit einer Beschränkung des Zugangs zur demokratischen Willensbildung beantwortet werden.
  • Die kommunale Demokratie ist vielfältiger geworden, hierdurch können Entscheidungsprozesse langwieriger werden. Gleichzeitig steht der Nachweis aus, dass hierdurch eine Gefährdung der Funktionsfähigkeit eines Kommunalparlaments eingetreten ist.


Der Landtag beschließt:
 

  • Der Landtag Nordrhein-Westfalen wird beauftragt, eine überparteiliche Kommission zur Stärkung des kommunalen Ehrenamtes einzurichten. Diese Kommission soll aktuelle Fragestellungen in Bezug auf das Wahlrecht, die Funktionsfähigkeit der Kommunalparlamente und die Förderung des Ehrenamtes erörtern und Vorschläge erarbeiten.