Laufzeitverlängerungen bei Tihange 3 und Doel 4, das Urteil des EuGH (RS C-411/17) zu Tihange 1 sowie Doel 1 und 2 und die Übergangsfrist bis 31.12.2022 sowie die fehlende grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung bzgl. Tihange 1
Im Jahr 2003 beschloss der belgische Gesetzgeber den schrittweisen Ausstieg aus der Atomkraft. Es sollte kein neues Kernkraftwerk mehr gebaut und bei den in Betrieb befindlichen Reaktoren nach 40 Jahren Laufzeit der Betrieb schrittweise zwischen 2015 und 2025 eingestellt werden. Dementsprechend stellte der an der Schelde (nahe Antwerpen sowie der niederländischen Grenze) liegende Kernreaktor Doel 1 die Stromerzeugung Mitte Februar 2015 ein. Auch der dortige Kernreaktor Doel 2 sollte die Stromerzeugung noch im selben Jahr einstellen.
Ende Juni 2015 wurde jedoch per Gesetz die Stromerzeugung in Doel 1 für etwa 10 Jahre erneut genehmigt (bis 15.02.2025) und das Ende der Stromerzeugung in Doel 2 um zehn Jahre verschoben (bis 01.12.2025). Diese Laufzeitverlängerung war an die Bedingung geknüpft, dass der Betreiber Engie Electrabel etwa 700 Millionen Euro in die Sicherheit der Reaktoren investiert. Eine Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) wurde für diese Investitionen nicht für erforderlich gehalten, da die Änderungen laut einer Vorprüfung nicht zu negativen radiologischen Auswirkungen oder zu signifikanten Veränderungen der bestehenden radiologischen Umweltauswirkungen führten.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in seinem Urteil vom 29. Juli 2019 (Rechtssache C411/17) festgestellt, dass die gesetzlich festgelegte Laufzeitverlängerung der beiden belgischen Atomkraftwerke (AKW) Doel-1 und Doel-2 nach der EU Richtlinie über Umweltverträglichkeitsprüfungen bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (UVP-Richtlinie) einer grenzüberschreitenden UVP bedurfte. Diese Position hatte auch die deutsche Bundesregierung in dem Verfahren vor dem EuGH vertreten.
Das Unterbleiben der notwendigen UVP hat nach Auffassung des EuGH nicht zwingend zur Folge, dass das belgische Gesetz, mit dem die Stromerzeugung durch die AKW Doel-1 und Doel-2 verlängert wurde, aufgehoben und der Betrieb eingestellt werden muss. Der Gerichtshof hat einen Weiterbetrieb aber an strenge Voraussetzungen geknüpft. Er ist auf den Zeitraum beschränkt, der absolut notwendig ist, um die fehlende UVP nachzuholen und eine Legalisierung herbeizuführen. Außerdem kommt ein Weiterbetrieb nur in Betracht, wenn die tatsächliche und schwerwiegende Gefahr besteht, dass die Stromversorgung des Landes unterbrochen wird und auch keine Alternativen (z.B. Zukauf von Strom im Rahmen des Binnenmarktes) zur Verfügung stehen. Mit Urteil vom 5. März 2020 (Entscheid Nr. 34/2020) ist der belgische Verfassungsgerichtshof, der die Angelegenheit dem EuGH vorgelegt hatte, dem EuGH gefolgt und hat das Gesetz zur Laufzeitverlängerung von Doel-1 und Doel-2 aufgrund fehlender UVP für nichtig erklärt. Die oben genannten strengen Voraussetzungen, die der EuGH für eine Aufrechterhaltung der Gesetzesfolgen und damit einen Weiterbetrieb aufgestellt hat, bejahte der belgische Gerichtshof. Als notwendigen Zeitraum, um die UVP nachzuholen und somit eine Legalisierung herbeizuführen, benannten die Richter den 31. Dezember 2022. Die Landesregierung hat dementsprechend mit der „Vorlage 17/6481“ am 25.02.2022 einen Bericht vom 22.02.2022 unter dem Titel: „Grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) zur Laufzeitverlängerung der belgischen Kernreaktoren Doel 1 und Doel 2 Schriftlicher Bericht zum Sachstand des Verfahrens und zu weiteren Aktivitäten der Landesregierung bezüglich belgischer Kernreaktoren“ über den Stand der UVP zur Laufzeitverlängerung der belgischen Kernreaktoren Doel-1 und Doel-2 sowie Tihange 1 veröffentlicht.
Das damals von der CDU geführte Umweltministerium und das damals von der FDP geführte Wirtschaftsministerium haben darin folgendes ausgeführt:
„Die Landesregierung setzt sich dafür ein, dass die Reaktoren Doel 1 und Doel 2 spätestens zum Laufzeitende 2025 vom Netz genommen werden. Eine weitere Laufzeitverlängerung lehnt die Landesregierung ab. Darüber hinaus vertritt die Landesregierung – ebenso wie der Bund – die grundsätzliche Position, dass eine grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung auch dann verpflichtend sein soll, wenn die auf einen bestimmten Zeitraum befristete Laufzeit von Atomkraftwerken verlängert wird.“
In Abstimmung mit dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz haben das Ministerium für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen und das Ministerium für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-Westfalen in einer gemeinsamen Replik vom 31.01.2022 auf das belgische Antwortschreiben, mit dem eine behördliche Konsultation abgelehnt wurde, ihre eigene Rechtsauffassung zur Durchführung einer Konsultation nochmals dargelegt. Die Verabschiedung des Änderungsgesetzes zur Laufzeitverlängerung bis 2025 soll im belgischen Parlament bis spätestens 15.12.2022 erfolgen.
Vor diesem Hintergrund frage ich die Landesregierung:
- Welchen Inhalt hat ein Antwortschreiben oder eine sonstige Reaktion der Belgischen Regierung auf die Replik des Umweltministerium und des Wirtschaftsministeriums vom 31.01.2022?
- Mit welchem Inhalt und welcher Zielrichtung wurden diesbezüglich weitere Gespräche der Landesregierung insbesondere des Ministerpräsidenten im Rahmen der Benelux-Kooperation mit Nordrhein-Westfalen geführt?
- Wie wird die Landesregierung die Themen UVP und Laufzeitverlängerung aufgrund der veränderten Energiesituation seit dem Ukraine-Krieg weiter behandeln?
- Sind mit Blick auf die Laufzeitverlängerung Gespräche mit der belgischen Regierung vor dem 15.12.2022 (geplante Verabschiedung des belgischen Gesetzes zur Laufzeitverlängerung bis 2025) geplant?
- Mit welcher Zielrichtung und Intention auch mit Blick auf andere Kernkraftblöcke sollen mögliche Gespräche mit der belgischen Regierung vor dem 15.12.2022 geführt werden?
Dr. Werner Pfeil