Lehrkräfte stärken – Bildungschancen sichern: Mit praxisintegrierter Ausbildung das Lehramtsstudium in die Zukunft führen
I. Ausgangslage
Das Bildungssystem in Nordrhein-Westfalen muss das Ziel verfolgen, beste Bildung für alle Kinder und Jugendlichen zu ermöglichen – unabhängig von Herkunft, Wohnort oder sozialem Hintergrund. Doch dieses Ziel gerät zunehmend in Gefahr. Verschiedene Bildungsstudien wie der IQB-Bildungstrend oder die internationalen PISA-Erhebungen zeigen seit Jahren: Die Leistungen der Schülerinnen und Schüler stagnieren oder sinken, insbesondere in den Basiskompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen. Bildungschancen junger Menschen sind zunehmend gefährdet. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Der Lehrkräftemangel ist eine der zentralen Herausforderungen für das Bildungssystem. Zunehmende gesellschaftliche Herausforderungen, die auch das Lehren und Lernen in der Schule beeinflussen und teilweise beeinträchtigen, wirken sich negativ auf die Belastung der Lehrkräfte und die Unterrichtsqualität aus.
Neben der Lehrkräftegewinnung liegt ein zentraler Schlüssel zur Verbesserung der Bildungschancen junger Menschen in der Steigerung der Qualität der Lehrkräfteausbildung. Nur wer solide, praxisnah und zeitgemäß auf den Schulalltag vorbereitet wird, kann Unterricht erfolgreich gestalten – auch unter schwierigen Bedingungen. Doch gerade in Schulen in herausfordernden Lagen fehlt es häufig an gut vorbereiteten, belastbaren Lehrkräften, die ausreichende Unterstützung erfahren, so gut unterrichten können und dabei gesund bleiben. Gute Arbeitsbedingungen und Entlastungen, wie z. B. durch den Einsatz von Verwaltungskräften, aber vor allem eine fundierte praktische Ausbildung, Teamstrukturen und Mentoring, können hier einen entscheidenden Unterschied machen.
Nach den Ergebnissen der jüngsten PISA-Studie von 2022, die vor allem die Kompetenzbereiche Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften überprüft hat, empfehlen Bildungsexpertinnen und -experten, dass der Lehrerberuf kooperativer und das Lehr- und Lernumfeld attraktiver gestaltet werden muss. Noch immer arbeiten Lehrkräfte viel zu oft isoliert als Einzelkämpferinnen und Einzelkämpfer. Dabei bräuchte es ein System, das Synergieeffekte durch Kooperation ermöglicht, etwa durch gemeinsame Vor- und Nachbereitung von Unterricht, kollegiale Beratung und Teamteaching. Bereits nach dem ersten PISA-Schock wurde der Einzelkämpferstatus der Lehrkräfte als Problem erkannt – geändert hat sich seitdem jedoch wenig. Eine moderne Lehrkräftebildung kann und muss hier strukturell ansetzen, um langfristig auch die Unterrichtsqualität zu verbessern.
Immer weniger junge Menschen entscheiden sich für das Lehramt oder brechen ihre Ausbildung frühzeitig ab.Hauptgründe sind hohe Belastungen, unzureichende Vorbereitung auf die schulische Realität und fehlende Unterstützung. Die universitäre Ausbildung ist häufig zu theorielastig und greift neue Lehr- und Lernmethoden sowie digitale Kompetenzen zu wenig auf. Realistische Einblicke in den Schulalltag sind begrenzt, das Orientierungspraktikum wird vielfach als unzureichend bewertet. Praxisphasen erfolgen meist zu spät und sind unzulänglich mit den Inhalten an der Hochschule verzahnt. Aktuelle Befragungen wie die „Befragung zur Lehrkräfteausbildung in NRW“ (Stand 04.07.2024, lehrer nrw) bestätigen diese Einschätzung: Studierende wünschen sich mehr begleitende Reflexion, bessere Betreuung in der Praxis und eine engere Verzahnung von Praxis und Hochschullehre. Zwar wird der Lehrerberuf als sinnstiftend erlebt, jedoch äußern viele Zweifel, ob sie ihn unter den aktuellen Rahmenbedingungen langfristig ausüben möchten.
Besorgniserregend ist auch die hohe Zahl junger Menschen, die ihren Weg ins Lehramt bereits während des Studiums wieder verlassen. Bundesweit brechen über 40 Prozent der angehenden Lehrkräfte ihre Ausbildung vorzeitig ab. In Nordrhein-Westfalen scheidet nach aktuellen Erhebungen nahezu jede zweite potenzielle Lehrkraft zwischen Studienbeginn und Studienende aus dem Lehramtsstudium aus. Im Vorbereitungsdienst ist der Schwund mit bundesweit rund fünf Prozent deutlich geringer. Über die genauen Ursachen für das vorzeitige Ausscheiden liegen bislang nur unzureichende Daten vor.
Angesichts dieser Herausforderungen ist jetzt der richtige Zeitpunkt, die Lehrkräfteausbildung grundlegend neu zu denken. Es braucht eine Umstellung des bisherigen Modells hin zu einer Ausbildung, die Fachlichkeit und Berufspraxis stärker miteinander verzahnt. Zwar bleibt eine fundierte fachwissenschaftliche Ausbildung unerlässlich, jedoch muss sie stärker auf die spezifischen Anforderungen des Lehramts ausgerichtet sein. Es ist beispielsweise nicht angemessen, dass angehende Grundschullehrkräfte dieselben Grundstudiengänge durchlaufen wie zukünftige Fachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler etwa in der Mathematik. Die Anforderungen müssen differenzierter gestaltet und an die spätere Schulform angepasst werden. Neben der notwendigen Tiefe in der Fachlichkeit muss vor allem die Fachdidaktik eine stärkere Rolle schon in den frühen Phasen des Lehramtsstudiums einnehmen.
Ein modernes Lehramtsstudium muss junge Menschen frühzeitig, kontinuierlich und qualifiziert an die Berufspraxis heranführen. Denn Lehrkraft wird man nicht über Nacht. Es braucht Zeit, um pädagogische Haltung, didaktisches Handwerkszeug und persönliche Reife zu entwickeln – kurzum: um zu einer echten Lehrerpersönlichkeit zu werden.
Zugleich zeigt sich: Frühzeitiges Mentoring, Coaching und Job-Shadowing verändern die Ausbildungskultur positiv – weg vom Bild der „Einzelkämpferin“, des „Einzelkämpfers“, hin zu einer kooperativen, professionell begleiteten Lern- und Arbeitskultur. Solche strukturell angelegten Lernprozesse wirken nicht nur in der Ausbildung, sondern prägen auch langfristig das professionelle Selbstverständnis von Lehrkräften.
Eine reformierte, praxisintegrierte Lehrkräfteausbildung erhöht damit nicht nur die Attraktivität des Studiums, sondern leistet einen zentralen Beitrag zur Qualitätssicherung im Unterricht und zur Bekämpfung des Lehrkräftemangels – durch niedrigere Abbruchquoten, höhere Bindung und gezielten Austausch von jungen und erfahrenen Lehrkräften über die gesamte Berufslaufbahn.
Kern der Reform ist die Einführung eines praxisintegrierten Lehramtsstudiums, das die Vorteile eines schulformoffenen Einstiegs mit einer späteren Spezialisierung verbindet. Eine erste Neuerung betrifft den Zugang zum Lehramtsstudium. Dieser soll künftig über eine Eignungsfeststellung nach finnischem Vorbild geregelt werden, die sowohl fachliche als auch persönliche Eignung in den Blick nimmt. In anderen Studienfächern wie zum Beispiel der Humanmedizin gibt es vergleichbare Verfahren, die den Abiturschnitt und andere Auswahlkriterien miteinander verzahnen, die für den späteren Beruf entscheidend sind.
In den ersten drei Semestern sollen die Studierenden nach dem Vorbild von Rheinland-Pfalz ein schulformoffenes Grundstudium durchlaufen, in dem sie grundlegende bildungswissenschaftliche, fachdidaktische und pädagogische Kenntnisse erwerben. Gleichzeitig sammeln sie erste praktische Erfahrungen in verschiedenen Schulformen. Diese Phase dient der fundierten Orientierung und einer reflektierten Studienentscheidung hinsichtlich der späteren schulformspezifischen Ausrichtung. Ab dem vierten Semester erfolgt eine gezielte Schwerpunktbildung. Die Studierenden vertiefen ihre Ausbildung in zwei Fachwissenschaften, die auf die gewählte Schulform abgestimmt sind – sei es Grundschule, Sekundarstufe I/II oder Berufskolleg. Parallel dazu intensivieren sich die Praxisphasen: Der Anteil praktischer Ausbildungsanteile steigt kontinuierlich an und reicht von Hospitationen über kooperatives Unterrichten (Co-Teaching) bis hin zu eigenständigen Unterrichtseinheiten, die eng durch Mentorinnen und Mentoren begleitet werden. Diese Ausbildungsstruktur wird beispielsweise im europäischen „Musterschülerland“ Finnland angewendet. Sie ermöglicht Durchlässigkeit, stärkt die Qualität der Ausbildung und erhöht zugleich den Praxisbezug.
An das Bachelorstudium schließt ein ebenfalls praxisintegriertes Masterstudium an. Während des Masterstudiums sind die Studierenden jeweils einer festen Schule zugeordnet. Dort übernehmen sie – begleitet durch qualifizierte Mentorinnen und Mentoren – schrittweise verantwortungsvolle Aufgaben im Unterricht.
Ziel ist es, die künftigen Lehrkräfte kontinuierlich in die schulische Praxis einzubinden, ihre berufliche Identität frühzeitig zu entwickeln und die Qualität des Unterrichts langfristig zu sichern. Sie ist darauf ausgelegt, mehr junge Menschen für das Lehramt zu begeistern, Abbrüche zu vermeiden und die Schulen personell wie fachlich zu stärken.
II. Beschlussfassung
Der Landtag beauftragt die Landesregierung,
- eine moderne, praxisintegrierte Lehrkräfteausbildung ab Studienbeginn einzuführen. Diese sollte in der Struktur und im Aufbau die folgenden Merkmale aufweisen:
- Im Bachelor soll zunächst ein schulformoffenes Grundstudium über drei Semester eingerichtet werden. In dieser Phase sollen von den Studierenden in den Praxiseinheiten verschiedene Schulformen durchlaufen werden. Das Bachelorstudium umfasst insgesamt sechs Semester.
- Für die Praxisphasen werden landesweit Ausbildungsschulen ernannt und mit den notwendigen Ressourcen ausgestattet.
- An den Ausbildungsschulen werden Mentorinnen und Mentoren eingesetzt, die eng mit der ausbildenden Hochschule und der dortigen Fachdidaktik zusammenarbeiten.
- Die Mentorinnen und Mentoren speisen sich aus den Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung. Die Zahl der ausbildenden Lehrkräfte muss deutlich erhöht werden.
- An den Hochschulen findet die fachliche sowie didaktische und pädagogische Ausbildung der Studierenden in der Theorie statt.
- Die schulpraktischen Zentren werden in ihrer Rolle gestärkt. Von Beginn an finden hier sogenannte schulübergreifende Trainings und Coachings statt, die sowohl fachdidaktische als auch fächerübergreifende Einheiten (z.B. zum Einsatz digitaler Lehr- und Lernmittel) und solche, die zur Persönlichkeitsentwicklung der angehenden Lehrkräfte beitragen, beinhalten (z.B. Konfliktverhalten oder -prävention).
- Der Praxisanteil im Studium steigt kontinuierlich über die Semester. Die Studierenden werden frühzeitig und zunehmend intensiv in den Unterricht eingebunden. Konkrete Praxisformate für einen systematischen Kompetenzaufbau sind: Hospitationen, Co-Teaching und schließlich eigenständiger, vom Mentor begleiteter Unterricht.
- Der Zugang zum Lehramtsstudium wird über eine Eignungsfeststellung geregelt. Die Kriterien sind ein Zusammenspiel aus fachlicher Eignung auf Grundlage der Noten des Schulabschlusses sowie persönlicher Eignung, die zum Beispiel mit Hilfe von Assessements beurteilt wird.
- An den Bachelor schließt ein ebenfalls praxisintegriertes Masterstudium an. Während des Masterstudiums sind die Studierenden einer festen Schule zugeteilt und übernehmen schrittweise von ihren Mentorinnen und Mentoren begleitete Unterrichtseinheiten.
- Um Kollisionen mit theoretischen Lernphasen und Prüfungsphasen zu verhindern, müssen die intensiven Praxisphasen fest in den Studienplan verankert werden.
- Praxisphasen werden als Studienleistung anerkannt (Praxismodul), Prüfungsleistungen werden über Reflexionsberichte, Praxisportfolios und in späteren Semestern auch Unterrichtsproben erbracht.
- Das praxisintegrierte Masterstudium umfasst vier Semester.
- Das Masterstudium endet mit schulpraktischen und theoretischen Prüfungen.
- Das neue Lehramtsstudium soll die multiprofessionelle Zusammenarbeit stärken. Dazu sollen Wahlpflichtmodule der Studiengänge Soziale Arbeit, Sonderpädagogik, Erziehungswissenschaften und Psychologie angeboten werden.
- flexible Brückenprogramme für Fachbachelorabsolventinnen und -absolventen zu schaffen, um den Quereinstieg mithilfe intensiver didaktischer, pädagogischer und schulpraktischer Ergänzungen zu vereinfachen,
- ein Netzwerk von Ausbildungsschulen aufzubauen und auszustatten,
- mit den lehrkräfteausbildenden Universitäten und Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung jeweils Konzepte für die Umsetzung des praxisintegrierten Lehramtsstudiums zu entwickeln,
- die Hochschulen für Angewandte Wissenschaften für die Lehrkräfteausbildung zu gewinnen,
- ein Finanzierungskonzept für die Praxisvergütung der Studierenden zu erarbeiten. Denkbar ist ein vergütetes Assistenzmodell (z. B. Anstellung als „Studentische Lehrassistenz“ mit 25-50 Prozent Teilzeit).