Mehr Zeit für einen erfolgreichen Strukturwandel im Rheinischen Revier schaffen – Kohleausstieg mindestens auf das Jahr 2033 schieben
I. Ausgangslage
Vor dem Hintergrund des Pariser Klimaabkommens und dem gemeinsamen Ziel weltweit Treibhausgasemissionen zu reduzieren, wurde am 16. Januar 2020 im Rahmen einer Bund-Länder-Einigung die Grundlage für das Kohleausstiegsgesetz gelegt, mit dem deutschlandweit das Ende der Kohleverstromung geregelt wurde. Bis spätestens im Jahr 2038 soll das letzte Kohlekraftwerk in Deutschland stillgelegt werden. Der Bund unterstützt unterdessen finanziell die aktive Gestaltung des Strukturwandels in den Kohleregionen.
Das Gesetzespaket zum Kohleausstieg und zur Strukturstärkung war das Ergebnis langer Verhandlungen in einer gemeinsamen Kohlekommission mit allen betroffenen gesellschaftlichen Gruppen und stellt einen historische gesamtgesellschaftlichen Kompromiss über alle Parteigrenzen und Interessengegensätze dar. Teil des Gesetzespakets ist daher auch die Berücksichtigung der Belange der Kohleregionen und Betroffenen vor Ort. Neue hochwertige Arbeitsplätze sollen entstehen und der Ausbau der Infrastruktur so gestaltet werden, dass sich neue Unternehmen ansiedeln können und junge Menschen dort Zukunftsaussichten haben.
Für die aktive Gestaltung des Strukturwandels im Rheinischen Braunkohlerevier stehen dafür insgesamt 14,8 Milliarden Euro an Strukturmitteln zur Verfügung. Notwendige Bedingung für den Ausstieg aus der Braunkohleverstromung im Rheinischen Revier ist, dass die Energieversorgung während und trotz der Reduzierung der Kohleverstromung dauerhaft sichergestellt und möglichst kostengünstig dargestellt werden kann. Die Auswirkungen der schrittweisen Stilllegung von Kohlekraftwerken auf die Versorgungssicherheit werden regelmäßig überprüft. In den Jahren 2026, 2029 und 2032 wird die Bundesregierung prüfen, ob die Zeitpunkte für die Stilllegungen von Kraftwerken angepasst werden können oder müssen.
Auf Bundesebene haben die regierungstragenden Parteien und die Bundesregierung im Koalitionsvertrag vorgesehen, den Kohleausstieg in Deutschland idealerweise bis zum Jahr 2030 vorzuziehen. Infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und des russischen Lieferstopps von Erdgas nach Deutschland gilt seit dem 23. Juni 2022 die Alarmstufe des Notfallplans Gas, um die Gasversorgung in Deutschland sicherzustellen. Aus Gründen der Energieversorgungssicherheit wurde aufgrund des Ausfalls russischer Gaslieferungen von der Bundesregierung im Herbst 2022 entschieden, vorübergehend die Laufzeiten der zur Stilllegung vorgesehenen Braunkohlekraftwerksblöcke Neurath D und E im Rheinischen Revier mit einer Gesamtleistung von 1200 MW zu verlängern, um Gas zu sparen und die Energieversorgung in den Wintern zu sichern.
Am 4. Oktober 2022 wurde hingegen überraschend auf einer gemeinsamen Pressekonferenz von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und Landeswirtschaftsministerin Mona Neubaur sowie dem Vorstandsvorsitzenden von RWE eine gemeinsame Vereinbarung und Entscheidung verkündet, den Ausstieg aus der Braunkohleverstromung im Rheinischen Revier um acht Jahre auf das Jahr 2030 vorzuziehen. Die Entscheidung sollte einerseits die Versorgung mit Braunkohle in der damals akuten Energiekrise sichern. Dafür wurde entschieden, die Räumung und bergbauliche Inanspruchnahme der Ortschaft Lützerath am Tagebau Garzweiler II vorzunehmen, um das darunterliegende reiche Braunkohleaufkommen abgraben zu können. Andererseits sollte die Entscheidung ein „Meilenstein für den Klimaschutz in Deutschland und Nordrhein-Westfalen“ sein, da durch den früheren Ausstieg laut Prognose der Landesregierung mindestens 280 Millionen Tonnen CO2 eingespart würden. Die Entscheidung ist gesetzlich auf Bundesebene und auf Landesebene durch eine neue Leitentscheidung der Landesregierung umgesetzt worden.
II. Handlungsbedarf
Der im Oktober 2022 verkündeten Ausstiegsentscheidung fehlt es an Transparenz, Nachvollziehbarkeit und den dafür notwendigen energiewirtschaftlichen Voraussetzungen. Mit dem im sehr kleinen Kreis zwischen politisch Verantwortlichen mit grünem Parteibuch und RWE vereinbarten Ausstieg wurde der Pfad des o.g. gesamtgesellschaftlich erarbeiteten und vereinbarten Kohlekompromisses von 2019 und 2020 verlassen. Aber noch viel mehr: Der Landtag wurde als frei gewähltes, gesetzgebendes Organ des Landes nicht rechtzeitig über jene landesbedeutsame Entscheidung informiert, wie ein Gutachten des parlamentarischen Gutachterdienstes festgestellt hat Transparenz über die Entscheidungsgründe für das Vor- ziehen des Kohleausstiegs in der Phase einer akuten Energiekrise wurde seitens der Landesregierung bis heute nicht geschaffen.
Die Räumung der Ortschaft Lützerath im Januar 2023 ist einer der teuersten Polizeieinsätze der Landesgeschichte. Bis dato ist unter Lützerath noch kein Gramm Braunkohle abgebaut und gefördert worden. Im Jahr 2022 und 2023 wurden insgesamt 14 Terawattstunden (TWh) weniger Strom in denen vom Tagebau Garzweiler II versorgten Braunkohlekraftwerken produziert, als von der Landesregierung prognostiziert. Die Stromerzeugung der relevanten Braunkohlekraftwerke Niederaußem und Neurath lag sogar 35 Prozent unter den Mindest-Erwartungen der Landesregierung. Der Braunkohlestrom wurde nicht gebraucht.
Der vorgezogene Ausstieg auf das Jahr 2030 hat bisher noch keinen Beitrag zum Klimaschutz geleistet. Damit der Effekt des vorgezogenen Kohleausstiegs im Rheinischen Revier im Europäischen Emissionshandel nicht verpufft, wäre nämlich zwingend die Löschung einer entsprechenden Menge nicht mehr benötigter Emissionsrechte notwendig. Andernfalls können die eingesparten Treibhausgase an anderer Stelle in Europa ausgestoßen werden. Eine Löschung der entsprechenden Emissionszertifikate ist bisher nicht erfolgt. Für das Klima wurde daher mit dem schwarz-grünen NRW-Weg nullkommanull erreicht, den nordrhein-westfälischen und deutschen Steuerzahler könnte die Entscheidung aber sehr wohl noch sehr teuer zu stehen kommen.
Am schwersten wiegt jedoch, dass es dem vorgezogenen Kohleausstieg für das Jahr 2030 an den energiewirtschaftlichen Voraussetzungen fehlt. Damit die letzten Braunkohlekraftwerksblöcke vom Netz genommen werden können, müssen bis zum Jahr 2030 ausreichend Ersatzkapazitäten und gesicherte Kraftwerkwerksleistung zur Verfügung stehen, um weiterhin eine sichere und zuverlässige Energieversorgung zu gewährleisten. Diese Voraussetzung ist seit der Entscheidungsverkündung im Oktober 2022 noch immer nicht erfüllt. Der Errichtung von flexiblen wasserstofffähigen Gaskraftwerken als Schwankungsreserve für sonnen- und windarme Tage kommt hier eine zentrale Bedeutung zu. Die dafür notwendigen Förderelemente in den vorgelegten Eckpunkten der geplanten Kraftwerksstrategie des Bundes sind mit der Europäischen Kommission beihilferechtlich noch immer nicht abschließend verhandelt. Laut Energiebranche müssen für Planung, Genehmigung und Bau der Ersatzkraftwerke mindestens sechs bis sieben Jahre Realisierungszeitraum veranschlagt werden. Bisher liegt kein einziger Genehmigungsantrag für die Errichtung eines wasserstofffähigen Gasersatzkraftwerkes in Nordrhein-Westfalen vor.
Ein erfolgreicher Kohleausstieg im Jahr 2030 ist damit sehr unwahrscheinlich. Scheitert der Kohleausstieg 2030, können Braunkohlekraftwerke nicht wie gesetzlich vorgesehen aus Gründen der Versorgungssicherheit vom Netz gehen. Dann kämen auf Steuerzahlerinnen und Steuerzahler erhebliche Kosten zu. Zusätzlich anfallende Kosten der Kohlebereitstellung und der Kraftwerke ab dem Jahr 2030 müssten RWE erstattet werden.
Der Strukturwandel im Rheinischen Revier ist nicht nur eine Jahrhundertchance, sondern auch eine Jahrhundertaufgabe. Das Gelingen einer klimaneutralen Transformation eines Industrielands wird im Rheinischen Revier entschieden. Dafür müssen Tagebaulöcher mit Rheinwasser gefüllt werden, alte Energieerzeugungsanlagen durch neue ersetzt werden, neue Industrien angesiedelt, Hochschul- und Forschungseinrichtungen und Straßen gebaut, Schienen und Leitungen verlegt und Bäume gepflanzt werden. Das alles braucht Zeit. Zeit, um alle Akteure mitzunehmen. Zeit, um zukunftsfeste Investitionsentscheidungen zu treffen und Zeit, um richtig planen zu können.
Mit der Entscheidung den Kohlausstieg von 2038 auf das Jahr 2030 vorzuziehen, wird der Strukturwandelprozess im Rheinischen Revier unter großen Stress gesetzt. Bisher sind lediglich 184 Projektvorhaben mit einem Fördervolumen von rund 1,62 Milliarden Euro tatsächlich bewilligt. Die vorgesehene vollständige Umsetzung des Strukturwandelprozesses bis zum Jahr 2030 scheint im bisherigen Tempo nicht erreichbar. Die Beschleunigung reißt zudem eine Arbeitsplatzlücke in das Rheinische Revier. In den jetzt verbliebenen sechs Jahren bis zum Jahr 2030 werden die perspektivisch in der Braunkohlewirtschaft wegfallenden 15.000 Arbeitsplätze in dieser Geschwindigkeit nicht adäquat ersetzt werden können. Bis zum Jahr 2038 wird zwar eine positive Arbeitsplatzentwicklung von 33.000 zusätzlichen Arbeitsplätzen erwartet, jedoch kommt zur zwischenzeitlichen Arbeitsplatzlücke eine Fachkräftelücke, wenn Wirtschaft und die Bevölkerung im Rheinischen Revier wachsen sollen. Die Fachkräftelücke beträgt zwischen 16.000 und 17.300 Stellen. Der Fachkräftebedarf betrifft nicht nur MINT-Experten, sondern trifft alle Berufsgruppen gleichermaßen. Es werden Menschen in Gesundheitsberufen, kaufmännische Berufen und Bildungs- und Betreuungseinrichtungen benötigt.
Negative Folgen durch die vorgezogene Kohleausstiegsentscheidung müssen jetzt unbedingt vermieden werden, um den Strukturwandelprozess im Rheinischen Revier zum Erfolg zu führen. Zusätzliche Kosten durch einen gescheiterten frühzeitigen Kohleausstieg müssen vermieden, die Finanzierung des Strukturwandels über das Jahr 2038 gesichert und den Akteuren im Rheinischen Revier mehr Freiheitsgrade und Zeit verschafft werden. Die rheinische Braunkohle hat jahrzehntelang die Energieversorgung Deutschlands sichergestellt. Es ist an der Zeit, der Region und den Menschen vor Ort wieder die besten Rahmenbedingungen für einen erfolgreichen Strukturwandel zu verschaffen und zu vereinbarten gesamtgesellschaftlichen Kompromiss über alle Parteigrenzen und Interessengegensätze hinaus zurückzukehren.
III. Beschlussfassung
Der Landtag beauftragt die Landesregierung,
- sich dafür einzusetzen, den Kohleausstieg im Rheinischen Revier mindestens auf das Jahr 2033 zu verschieben und den Regelbetrieb für die im Jahr 2030 zur Stilllegung vorgesehenen Braunkohlekraftwerke entsprechend zu verlängern, bis der Zubau ausreichender Ersatzkapazitäten gewährleistet ist.
- die dafür notwendige Versorgung der Kraftwerke mit Braunkohle auf Landesebene planerisch und genehmigungsrechtlich zu sichern und mit einer neuen Leitentscheidung anzupassen, sofern notwendig.
- technologieoffen den Zubau von Ersatzkapazitäten und ausreichend gesicherter Leistung zu ermöglichen und die dafür notwendigen Flächen planerisch zu sichern.
- Planungs- und Genehmigungsverfahren für den Zubau von Ersatzkapazitäten und ausreichend gesicherter Leistung deutlich zu beschleunigen.
- Strukturfördermittel prioritär und zielgerichtet für die Schaffung neuer Arbeitsplätze und neuer Wertschöpfung im Rheinischen Revier einzusetzen.
- bis zum Ende der Legislaturperiode Strukturwandelprojekte im Rheinischen Revier mindestens in einer Gesamtförderhöhe der Hälfte der vom Bund zugesagten Strukturmittel in Höhe von mehr als 14,8 Mrd. Euro in die Bewilligung zu bringen.
- sich auf Bundesebene für eine überjährliche Bereitstellung von Strukturmitteln und für die Einführung einer investiven Bundesförderrichtlinie für den Strukturwandel einzusetzen, die auf die maßgeschneiderten Strukturwandelprojekte in den Braunkohlerevieren zugeschnitten ist.
- sich sowohl auf Bundes- als auch EU-Ebene dafür einzusetzen, dass im Rheinischen Revier eine Sonderwirtschafts- und Sonderplanungszone eingerichtet werden, in der befristet die Bedingungen für staatliche Beihilfen entscheidend vereinfacht und Flächen schneller entwickelt werden können.
- sich im Rahmen der Beratungen zum geplanten Reallaborgesetzes des Bundes für die Schaffung von Freiheitszonen und Experimentierräumen im Rheinischen Revier zur Erprobung von Innovationen und zur Vereinfachung von Genehmigungsverfahren einzusetzen.