Organisierten Missbrauch von Sozialleistungen im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügig-keit konsequent bekämpfen – von Armutszuwanderung betroffene Kommunen besser unterstützen!
I. Ausgangslage
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist ein wesentlicher Bestandteil des für alle EU-Mitgliedstaaten verbindlich geltenden Unionsrechts. Sie eröffnet allen Unionsbürgerinnen und -bürgern die Möglichkeit, in jedem Mitgliedstaat unter den gleichen Voraussetzungen und Arbeitsbedingungen eine Beschäftigung aufzunehmen und auszuüben wie Angehörige dieses Staates. Dies bedeutet die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit stellt somit eine der wesentlichen Errungenschaften des europäischen Einigungsprozesses dar. Rechtsgrundlagen sind insbesondere Artikel 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und die Verordnung (EU) Nr. 492/2011. Der Begriff „Arbeitnehmer“ im Sinne der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist dabei nicht näher definiert und dementsprechend weit auszulegen. Einschränkungen der Freizügigkeit sind nur in einem engen Rahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und
Gesundheit sowie bei Beschäftigungen in der öffentlichen Verwaltung als Kernbereich hoheitlicher Tätigkeit möglich.
Nach der EU-Osterweiterung 2004 bzw. 2007 (Bulgarien und Rumänien) galten zunächst Übergangsbestimmungen zur Einschränkung des Zugangs zum Arbeitsmarkt. In Deutschland haben Unionsbürgerinnen und - bürger aus Bulgarien und Rumänien erst zum 1. Januar 2014 die volle Freizügigkeit erhalten. Seitdem hat die Einwanderung aus Südosteuropa deutlich zugenommen. Dabei umfasst ein großer Teil reguläre Arbeitsmigration. So waren im Februar 2025 rund 685.000 Staatsangehörige aus diesen beiden Ländern in Deutschland sozialversicherungspflichtig beschäftigt und zahlten in das deutsche Sicherungssystem ein. Allerdings kam es auch zur Einwanderung von bereits in den Herkunftsländern benachteiligten Menschen, denen Qualifikationen sowie Sprachkenntnisse fehlen.
Ein großes Problem stellen dabei organisierte Strukturen dar, die benachteiligte Menschen aus Südosteuropa anwerben, sie in überbelegten und maroden Immobilien, insbesondere in Städten des Ruhrgebiets in denen viele Wohnungen leer stehen, unterbringen, ihnen fingierte Arbeitsverträge zu geringfügigen Beschäftigungen oder Schein-Selbstständigkeiten anbieten, dann Sozialleistungen wie ergänzendes Bürgergeld oder Kindergeld beantragen lassen und einen großen Teil dieser staatlichen Leistungen selbst einbehalten. In diesem Zusammenhang sprach die Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas in einem Stern-Interview von „mafiösen Strukturen“. Dies bestätigte ein Experte für Schwarzarbeit. So würde in bestimmten Duisburger Stadtteilen, also in bestimmten Gebäuden und Straßen, ein riesiger Sozialversicherungsbetrug stattfinden. Es würde zum Beispiel Kindergeld abgerechnet für Kinder, die unter Umständen gar nicht existieren.
Mit dem organisierten Missbrauch von Sozialleistungen werden die europäischen Regelungen zur Arbeitnehmerfreizügigkeit ausgenutzt. Die Gelsenkirchner Oberbürgermeisterin Karin Welge hat dazu geäußert, dass die angebliche Jobsuche allzu oft vor allem eine „Zuwanderung in die Sozialsysteme“ sei. Dies sei zum „Geschäftsmodell“ für Kriminelle geworden. Von 2014 bis 2023 seien bei Kontrollen allein in Gelsenkirchen 4.500 Personen von Amts wegen abgemeldet und über 600 Fälle von Sozialleistungsmissbrauch aufgedeckt worden. Welge hat festgestellt, dass hohe Bürgergeldsummen für Familien mit vielen Kindern bezogen werden, von denen die Hintermänner den Großteil einkassieren würden. So würden die Sozialsysteme systematisch ausgenutzt, während das Bürgergeld in den Taschen von Clan-Oberen landet. Deshalb fordert sie, Verstöße gegen das Sozialrecht schneller und härter als bisher zu ahnden. Es würde einen deutlichen Abschreckungseffekt brauchen.
Die Leiterin des Jobcenters Gelsenkirchen bestätigte ein breit zu beobachtendes Phänomen, dass kriminelle Hintermänner Menschen systematisch in das Bürgergeldsystem schleusen und die Sozialleistungen für sich selbst abzweigen. Die Hintermänner hätten kein Interesse daran, dass die Menschen tatsächlich integriert werden. Viele dieser Menschen hätten weder eine Ausbildung noch einen Schulabschluss und müssten erst einmal alphabetisiert werden. Es gebe Kinder, die nicht zur Schule gehen oder auch gar nicht mehr in Deutschland leben, aber es würde trotzdem Bürgergeld für sie gezahlt. Ihr großer Wunsch sei, dass die Politik den Behörden ermöglicht, sich direkter und intensiver auszutauschen. Aus Sicht des Duisburger Sicherheits- und Ordnungsdezernenten kann es nicht der Sinn der EU-Freizügigkeit sein, dass Menschen aus Europa von Kriminellen nach Duisburg gelotst werden, um hier Sozialleistungen zu kassieren.
Ein weiteres Problem in diesem Zusammenhang stellt die Anmeldung eines Wohnsitzes dar, ohne dass sich die entsprechenden Personen tatsächlich in Deutschland aufhalten. Dies erfolgt z. B. mit gefälschten Wohnungsgeberbescheinigungen oder durch die Anmietung von Wohnungen, bei denen die Zahlung der Miete gleich wieder eingestellt wird. Mit der offiziellen Anmeldung werden dann Sozialleistungen wie Kindergeld beantragt. Aufmerksame Vermieter und Hausverwalter können beim örtlichen Einwohnermeldeamt eine Liste der im Gebäude gemeldeten Personen anfordern und bei Personen, die dort nicht (mehr) wohnen, eine Abmeldung von Amts wegen anregen. Die Meldebehörde hat bei konkreten Anhaltspunkten für die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit des Melderegisters den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln (§ 6 Absatz 3 BMG). Dabei hat die Meldebehörde zu prüfen, ob nicht nur von einer vorübergehenden Abwesenheit der meldepflichtigen Person auszugehen ist. So können diese Ermittlungen erhebliche Zeit in Anspruch nehmen, während weiter Sozialleistungen gezahlt werden.
Insgesamt zeigen Daten ein besorgniserregendes Ausmaß des Missbrauchs. Die gemeinsam von Bundesagentur und Kommunen betriebenen Jobcenter haben im vergangenen Jahr 43.699 Verdachtsfälle zu Missbrauch beim Bürgergeld angezeigt. Die Familienkassen überprüften 2024 rund 140.000 Verdachtsfälle wegen unrechtmäßiger Kindergeldzahlungen, in mehr als 100.000 Fällen wurden steuerrechtliche Ermittlungsverfahren ausgelöst. Die Zahl der festgestellten organisierten Betrugsfälle beim Bürgergeld erscheint zwar nicht sonderlich dramatisch. Allerdings geht der Trend im Vergleich zu den Vorjahren steil nach oben. Laut Bundesregierung wurden im Jahr 2023 lediglich 229 Fälle von "bandenmäßigem Leistungsmissbrauch" registriert. Schon 2024 hatte sich die Zahl auf 421 nahezu verdoppelt. Bis einschließlich Mai 2025 sind im laufenden Jahr bereits 195 Fälle aufgedeckt worden.
Durch den Missbrauch von Sozialleistungen entsteht der Gesamtheit der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler ein erheblicher Schaden. Unser Sozialstaat kann nur funktionieren, wenn Regeln gelten und Missbrauch spürbar geahndet wird. Besonders problematisch ist, wenn organisierte Strukturen gezielt staatliche Leistungen abschöpfen, während viele Menschen auf echte Unterstützung angewiesen sind. Wer unser System derartig ausnutzt, gefährdet das Vertrauen in die Gerechtigkeit unseres Sozialstaats insgesamt.
Ein wichtiges Instrument zur Bekämpfung von Sozialleistungsmissbrauch ist das im Jahr 2019 im Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen entwickelte Modell MISSIMO (Sozialleistungsmissbrauch im Zusammenhang mit Problemimmobilien). Der Fokus von MISSIMO liegt auf der Verhinderung ungerechtfertigter Kindergeldzahlungen. Kern des Modells ist ein strukturierter Datenaustausch unter Federführung beteiligter Behörden in einer Kommune wie der Familienkasse, der lokalen Kreispolizeibehörde, der örtlich zuständigen Staatsanwaltschaft und des regional zuständigen Jobcenters. Städte wie Gelsenkirchen, Krefeld, Wuppertal und Duisburg haben das Modell MISSIMO bereits erfolgreich eingesetzt und Missbrauchsfälle aufgedeckt.
Allerdings ist der Aufwand bei allen Beteiligten hoch, um datenschutzrechtliche Bedenken von unterschiedlichen Ämtern auszuräumen und Strukturen für die interdisziplinäre Zusammenarbeit innerhalb der Kommunen aufzubauen. So zögern viele Städte und Gemeinden bei der Einführung oder verzichten wie Münster ganz darauf. Daher müssen Kommunen bei der Implementierung noch besser begleitet und unterstützt werden, um eine landesweite Umsetzung zu erreichen. Zudem sollte das Modell neben den ungerechtfertigten Kindergeldzahlungen auch organisierten Leistungsmissbrauch beim Bürgergeld betrachten. Mittelfristig sollte das Modell MISSIMO flächendeckend in reguläre Verfahren überführt werden.
Das Land hatte 2017 zur Unterstützung der von der Einwanderung aus Südosteuropa besonders betroffenen Kommunen das Förderprogramm „Zuwanderung aus Südosteuropa“ aufgelegt, das zuletzt einen Ansatz von 5,5 Mio. Euro im Landeshaushalt umfasste mit dem 35 Kommunen gefördert wurden. Dieses Programm ist Ende 2024 ausgelaufen. Die Förderung der Integration dieser Personengruppe soll jetzt innerhalb der Regelstrukturen des Kommunalen Integrationsmanagements (KIM) erfolgen, ohne dass die vorher dafür verwendeten Mittel übertragen wurden. Vielmehr wurden 2025 die Haushaltsmittel in der Titelgruppe für die integrationspolitische Infrastruktur insgesamt sogar noch gekürzt.
Für eine Übernahme dieser Aufgabe aus eigenen kommunalen Mitteln stehen aber in den Städten und Gemeinden keine zusätzlichen Ressourcen zur Verfügung. Deshalb sollte das Kommunale Integrationsmanagement um eine vierte Säule ergänzt werden, mit der gezielt Kommunen mit besonderen Problemlagen unterstützt werden und bedarfsorientierte Maßnahmen vor Ort gefördert werden. Dabei sollten auch die Kriterien zum Beispiel im Hinblick auf die eingesetzten Beschäftigten flexibler gestaltet sein als bei den anderen Säulen im KIM.
Die Landesregierung hat zwar noch andere Maßnahmen ergriffen wie eine Förderung des Rückbaus von Problemimmobilien. Allerdings wird zur Bekämpfung des organisierten Sozialleistungsmissbrauchs ein systematisches und konsequentes Vorgehen auf allen Ebenen benötigt. Das Land muss dazu beitragen, bereits bewährte Instrumente wie MISSIMO wirksam einzusetzen und auszubauen. Die rechtlichen Handlungsmöglichkeiten müssen u. a. mit einer Anpassung der Rechtsgrundlagen zur EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit und einer Erleichterung des Datenaustauschs insbesondere zwischen Melde- und Sozialbehörden erweitert werden. Zudem müssen die betroffenen Städte und Gemeinden besser unterstützt werden.
II. Beschlussfassung
Der Landtag fordert die Landesregierung auf,
- das Modell MISSIMO auf den organisierten Leistungsmissbrauch beim Bürgergeld auszuweiten, Kommunen bei der Implementierung besser zu unterstützen und auf eine landesweite Umsetzung hinzuwirken sowie mittelfristig das Modell MISSIMO flächendeckend in reguläre Verfahren zu überführen.
- sich auf Bundesebene für eine rechtliche Erleichterung des Datenaustauschs insbesondere zwischen Melde- und Sozialbehörden einzusetzen,
- sich auf europäischer Ebene für eine Anpassung der Rechtsgrundlagen zur Arbeitnehmerfreizügigkeit einzusetzen, die dazu beiträgt, Missbrauch zu vermeiden sowie
- von Armutszuwanderung betroffene Kommunen gezielt mit einer vierten Säule des Kommunalen Integrationsmanagements (KIM) zu unterstützen mit der bedarfsorientierte Maßnahmen vor Ort anhand flexibel gestalteter Kriterien gefördert werden können.