Nachbarn, die einander helfen: Regionalpartnerschaft von NRW und der Ukraine vorantreiben
I. Ausgangslage
Seit 2014 greift die Russische Föderation unter Wladimir Putin die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine an. Was zunächst als regional bewaffneter Konflikt begann, gipfelte am 24. Februar 2022 in einem umfassenden, völkerrechtswidrigen und durch nichts zu rechtfertigenden Krieg. Der grausame Überfall hat schon jetzt viele tausend Menschen ihr Leben sowie ihre körperliche und seelische Unversehrtheit gekostet. Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer, vorwiegend Kinder, Frauen, alte, kranke und behinderte Menschen, mussten ihre Heimat verlassen und sind auf der Flucht. Viele haben Gewalt- und Missbrauchserfahrungen erlebt, sind traumatisiert oder wurden gar verschleppt.
Gezielte Angriffe auf Zivilisten und zivile Infrastruktur wie Schulen oder Krankenhäuser zeigen, dass sich Russland nicht einmal an internationales Kriegsrecht hält. Die russischen Angriffe hinterlassen schwer zerstörte Städte und Dörfer, zerschlagene Infrastruktur und verminte Felder. Der russische Angriffskrieg wirkt sich nicht nur unmittelbar auf die ukrainischen Gebiete aus, sondern auch auf die globale Energieversorgungs- und Nahrungsmittelsicherheit.
Deutschland ist nicht nur das bevölkerungsreichste Land und die stärkste Volkwirtschaft der EU, sondern hat das weltweit einmalige Friedensprojekt der Europäischen Einigung auch mitbegründet. Der Bundesrepublik kommt innerhalb der EU eine zentrale Rolle bei der Politikgestaltung nach innen und außen zu. Unter dem Eindruck des Krieges in unmittelbarer europäischer Nachbarschaft schauen unsere Verbündeten und die Ukraine selbst sehr genau, wie sich Deutschland außenpolitisch positioniert und handelt.
In enger Abstimmung mit der NATO und der Europäischen Union unterstützt die Bundesrepublik Deutschland die Ukraine nicht nur finanziell und wirtschaftlich, sondern auch humanitär und militärisch. In diesem völkerrechtswidrigen Krieg verteidigt die Ukraine nicht nur unsere eigenen geopolitischen Interessen jenseits der östlichen EU-Außengrenze, sondern auch unsere gemeinsamen europäischen Werte gegenüber einer repressiven, nationalistischen und revisionistischen Diktatur.
Die Ukraine als integraler Bestandteil der europäischen Staatenfamilie
Die Ukraine gehört zur europäischen Staatenfamilie. Das ukrainische Volk demonstrierte seine Zugehörigkeit zur freiheitlichen, demokratischen Idee, zu Grundrechten, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung in den letzten Jahren immer wieder eindrücklich. Trotz der Kämpfe im Osten des Landes hat die Ukraine darauf hingearbeitet, hier weitere Fortschritte zu erzielen und Korruption zu bekämpfen. In der aktuellen Notsituation braucht das Land nicht nur handfeste Hilfe, sondern eine ermutigende Perspektive, für die es sich weiter zu kämpfen lohnt: Hoffnung auf eine bessere, selbstbestimmte Zukunft nach Kriegsende. Kurz nach der russischen Invasion hatte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski offiziell in Brüssel ein EU-Beitrittsgesuch gestellt. Während des gemeinsamen Ukraine-Besuchs mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, dem italienischen Regierungschef Mario Draghi und dem rumänischen Präsidenten Klaus Johannis hat sich Bundeskanzler Olaf Scholz am 16. Juni für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen ausgesprochen. Einen Tag später, am 17. Juni befürwortete auch die Europäische Kommission den Kandidatenstatus. Bereits beim EU-Gipfel am 23. Juni entschieden die Mitgliedsstaaten, EU-Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine aufzunehmen.
Es ist anzunehmen, dass der Beitrittsprozess den Krieg überdauern und es erheblicher Kraftanstrengungen von Seiten der Ukraine bedarf, um die Kopenhagener Kriterien zu erfüllen. Neben politischen und wirtschaftlichen Anforderungen erfordert ein Beitritt auch die erfolgreiche Übernahme des „aquis communautaire“, d. h. die Übernahme des gesamten Gemeinschaftsrechts. Klar ist, dass es dabei für die Ukraine keine Abkürzung geben kann. Gleichzeitig kann die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen kein leeres Versprechen mit vagem Ausgang sein. Gibt es grünes Licht für die Beitrittsverhandlungen, wird es von enormer Wichtigkeit sein, dass die Ukraine auf dem Weg in die Europäische Union gut begleitet und tatkräftig unterstützt wird. Die Unterstützung freundschaftlich verbundener Städte und Regionen kann bei der Realisierung des Beitritts von großer Bedeutung sein und einen erheblichen Unterschied machen.
Nordrhein-Westfalen hat Gestaltungsmacht
Seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine sind allein 195.567 Ukrainerinnen und Ukrainer offiziell in NRW registriert (Stand 2. August 2022). Ukrainische Kinder und Jugendliche gehen in nordrhein-westfälische Kitas und Schulen und Erwachsene haben auf Basis der Richtlinie für die „Gewährung vorübergehenden Schutzes“ der Europäischen Union (2001/55/EG) - erleichterten Zugang zum Arbeitsmarkt. Das Land und die Menschen in NRW zeigen sich solidarisch mit den Geflüchteten und möchten sie entschlossen und wirksam in ihrem Überlebenskampf unterstützen.
Das spiegelt sich auch in der parlamentarischen Debatte auf Basis der Resolution „Nordrhein-Westfalen verurteilt den Angriffskrieg auf die Ukraine und heißt Flüchtlinge hier willkommen“ (Drs. 17/16758) vom 23. März 2022, die von den demokratischen Fraktionen des Landtags NRW getragen wurde. Auch in der Sondersitzung des Ausschusses für Europa und Internationales des Landtags NRW gab es am Tag zuvor gegenüber der ukrainischen Generalkonsulin und gegenüber dem polnischen Generalkonsul fraktionsübergreifend ein starkes Plädoyer für nordrhein-westfälische Unterstützung für die Ukraine. Im Rahmen der Landeskompetenzen bietet sich dafür zum einen umfassende humanitäre Hilfe, aber auch tatkräftige Unterstützung beim Wiederaufbau des Landes an.
Als Bundesland hat NRW keine genuinen außenpolitischen Kompetenzen. Sehr wohl kann es als bevölkerungsreichster und wirtschaftlich stärkster deutscher Flächenstaat aber gerade über regionale Partnerschaften gewichtige Akzente setzen und damit die europäische Zusammenarbeit mit europäischen Nachbarregionen nachhaltig stärken.
Oftmals über Jahrzehnte gewachsen, pflegt das Land einen sehr engen, grenzüberschreitenden Austausch mit den unmittelbar angrenzenden Benelux-Staaten. Intensiv sind auch die Bande mit der französischen Partnerregion Hauts-de-France und der Woiwodschaft Schlesien im Rahmen des regionalen Weimarer Dreiecks. Neben Ghana, Pennsylvania, British Columbia, Nordmazedonien und nicht zuletzt mit dem Piemont bestehen u. a. besonders enge regionale Verbindungen. Oftmals erstreckt sich die Kooperation auf verschiedene Ebenen, von verstärkter wirtschaftlicher Zusammenarbeit über wissenschaftlichen, kommunalen, zivilgesellschaftlichen bis hin zu kulturellem Austausch. Auch die Konzentration auf bestimmte Schwerpunkte der Zusammenarbeit scheint zukunftsweisend zu sein, wie etwa die positive Bewältigung des Strukturwandels in Greater Manchester und dem Regionalverband Ruhr.
Es liegt daher auf der Hand, dass in dieser historischen Zeit NRW mit einer Landespartnerschaft zur Ukraine bzw. zu einer Region in der Ukraine auch an dieser Stelle Verantwortung übernimmt und als Motor für Austausch und der internationalen Zusammenarbeit fungiert. Unsere polnische Partnerregion Schlesien kann auf dem Weg dorthin wertvolle Brücken bauen.
II. Der Landtag stellt fest,
- dass er in der vergangenen Wahlperiode mit Mehrheit beschlossen hat, „… die Kooperationen mit verschiedenen Regionen Europas weiter auszubauen und zu vertiefen sowie weitere Projekte der regionalen Zusammenarbeit auf den verschiedensten Politikfeldern im Interesse einer guten Entwicklung unseres Landes und der europäischen Zusammenarbeit zu initiieren und durchzuführen.“ Dabei gälte es, den Landtag NRW eng einzubinden (Drs. 17/16912).
- dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, um der Solidarität Nordrhein-Westfalens gegenüber der Ukraine mit der Anbahnung einer regionalen Partnerschaft Ausdruck zu verleihen, den hierher geflohenen und noch in der Ukraine verbliebenen Menschen regional orientiert zu helfen und ihnen beim Wiederaufbau tatkräftig zur Seite zu stehen. Gerade jetzt, wo die Angriffe Russlands andauern und erste Ermüdungs- und Gewöhnungseffekte einsetzen, sendet Nordrhein-Westfalen mit dem Wunsch nach einer Regionalpartnerschaft ein starkes Signal.
- dass Nordrhein-Westfalen selbst von vertieften regionalen Beziehungen mit der Ukraine profitieren kann. Dabei versprechen besonders die Sachgebiete Luft- und Raumfahrt, IT und Digitalisierung sowie Energie wichtige Impulse zum gegenseitigen Nutzen, ebenso wie kulturelle, wissenschaftliche und gesellschaftliche Kontakte.
- dass unser Land damit unmissverständlich zum Ausdruck bringt, dass wir an den Fortbestand und die Zukunft einer freien, unabhängigen und demokratischen Ukraine als Teil der europäischen Staatengemeinschaft glauben und bereit sind, uns dafür nach den Möglichkeiten eines Bundeslandes einsetzen.
III. Der Landtag beauftragt die Landesregierung,
- ihre Gespräche mit Vertretern der Ukraine, der Bundesregierung und anderen relevanten Akteuren fortzuführen, um die Möglichkeit und das ukrainische Interesse an einer nordrhein-westfälisch-ukrainischen Regionalpartnerschaft auszuloten,
- sofern Interesse der Ukraine an einer solchen Partnerschaft besteht, unter Berücksichtigung des Kriegsgeschehens und der daraus resultierenden Begrenzung der Möglichkeiten zu prüfen, welche Region hierfür in Betracht kommt.
- darauf basierend entsprechende vorbereitende Gespräche zu führen und eine Regionalpartnerschaft auf regionaler Ebene anzustreben.
Henning Höne
Marcel Hafke
Prof. Dr. Andreas Pinkwart
und Fraktion
Thorsten Schick
Matthias Kerkhoff
André Kuper
Christina Schulze Föcking
Romina Plonsker
und Fraktion
Thomas Kutschaty
Sarah Philipp
Alexander Vogt
Thorsten Klute
Josef Neumann
Rodion Bakum
und Fraktion
Verena Schäffer
Wibke Brems
Mehrdad Mostifizadeh
Stefan Engstfeld
Berivan Aymaz
und Fraktion