Therapieplätze für Kinder mit sexueller Gewalterfahrung flächendeckend ausbauen und Wartezeiten verkürzen
I. Ausgangslage
Die erschreckenden Vorkommnisse in Lügde, Münster, Bergisch Gladbach und Wermelskirchen zeigen die große Zahl von Kindern, die eine sexuelle Gewalterfahrung erleiden mussten. Die genannten Fälle sind nur diejenigen, die durch die Medien Aufmerksamkeit erhalten haben. Im Jahr 2021 wurden in Deutschland 17.498 Kinder polizeilich erfasst, die Opfer von sexuellem Missbrauch wurden.
Es ist leider davon auszugehen, dass die tatsächliche Zahl (Dunkelziffer) deutlich höher liegt. Ebenso gilt es zu beachten, dass die Zahl der betroffenen Kinder in den vergangen Jahren deutlich gestiegen ist. So lag sie im Jahr 2017 noch bei 13.539 Fällen im Jahr. Damit wurden in 2021 etwa 3.900 Fälle mehr verzeichnet als im Jahr 2017.
Deutlich gestiegen sind auch die ausermittelten Fälle von Missbrauchsdarstellungen. Laut polizeilicher Kriminalstatistik (PKS) 2021 sind im Vergleich zum Vorjahr die Zahlen um 108,8% gestiegen. Lagen sie im Jahr 2020 noch bei 18.761 wurden im Jahr 2021 39.171 Fälle verzeichnet. Ebenso gestiegen ist die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die Missbrauchsdarstellungen, besonders in den sozialen Medien, verbreiteten, erwarben, herstellten oder besaßen. Waren es im Jahr 2018 noch 1.373 minderjährige Tatverdächtige, stieg die Zahl im Jahr 2021 auf 14.528 Tatverdächtige. Somit haben sich die Zahlen verzehnfacht.
Die gestiegenen Zahlen in der Breite der Thematik machen deutlich, dass es nicht nur intensivierte polizeiliche Maßnahmen und ein größeres Bewusstsein für das Thema in der Öffentlichkeit gibt, sondern auch, dass die Corona-Pandemie und die dadurch bedingten Schließungen von Schulen und Kitas Kindern und Jugendlichen Schutzräume genommen haben. Kindern und Jugendlichen fehlte in dieser Zeit eine mögliche Anlaufstelle, um sich zu öffnen. Auch Jugendämter und Beratungsstellen waren während der Corona-Pandemie nur eingeschränkt erreichbar. Rückblickend lässt sich feststellen, dass die Corona-Pandemie nicht nur eine große psychische Belastung für Kinder und Jugendliche war, sondern ein zusätzlicher Risikofaktor, Opfer eines sexuellen Übergriffs zu werden.
Es ist nicht nur wichtig, die Missbrauchsfälle aufzudecken und präventive Maßnahmen vorzunehmen, um Fälle zu verhindern. Ebenso benötigen betroffene Kinder eine effektive Hilfe, damit sie die Erlebnisse verarbeiten können und ihnen eine angst- und sorgenfreie Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht wird. Kindesmissbrauch stellt einen Risikofaktor für die Entwicklung emotionaler Probleme und Verhaltensauffälligkeiten dar, insbesondere für die Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Laut der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatherapie (2013) erhalten nur 30% der Kinder und Jugendlichen mit PTBS eine angemessene Therapie.
Neben dem Erstellen, Verbreiten und Erwerben von Missbrauchsdarstellungen durch Kinder und Jugendliche stellt auch das Phänomen des Sexting ein belastendes Phänomen dar, welches unter Jugendlichen zugenommen hat. Sexting führt zu einer Belastung, wenn die entsprechenden Bilder , wie es leider oftmals passiert, in den sozialen Netzwerken geteilt werden. Immer wieder kommt es in solchen Fällen in der Folge zu Suizidversuchen aufgrund der des massiven Schamgefühls der Betroffenen.
Um langfristige Folgen zu verhindern, muss den Kindern und Jugendlichen ein Zugang zu Hilfsangeboten, Frühintervention und Therapie flächendeckend und möglichst kurzfristig ermöglicht werden. Einer Studie der Bundespsychotherapeutenkammer zu folge beträgt die durchschnittliche Wartezeit in einer Praxis für Kinder und Jugendliche knapp fünf Wochen (4,8) auf ein Erstgespräch. Die Wartezeit auf einen Therapieplatz beträgt durchschnittlich 17,8 Wochen. Besonders hohe Wartezeiten findet man außerhalb von Großstädten und im Ruhrgebiet. Gerade auch der Zugang zu Therapieplätze im ländlichen Raum ist daher in den Blick zu nehmen.
Mit steigenden Zahlen betroffener Kinder steigt auch der Bedarf an passenden Therapieangeboten, um Kindern mit Missbrauchserfahrungen zu unterstützen, ihre bedrückenden Erlebnisse zu verarbeiten. Zu lange Wartezeiten können dazu führen, dass Symptome sich manifestieren. Gesetzlich Krankenversicherte haben nach § 27 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Dies gilt auch für die Psychotherapie als ärztliche und psychotherapeutische Behandlung. Zwar sind seit Ende 2010 bundesweit rund 900 Praxen zur psychotherapeutischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen entstanden, doch diese Zahl ist nicht ausreichend, wenn man die gestiegenen Bedarfe bedingt u. a. durch die Corona-Pandemie betrachtet.
Die Bedarfsplanung ist ein wesentliches Instrument bei der Kassenzulassung und Sicherstellung der ambulanten ärztlichen und psychotherapeutischen Versorgung. Für die Bedarfsplanung ist der Versorgungsgrad einer Fachgruppe in einer abgegrenzten Planungsregion (z. B. Kreise und kreisfreie Städte) relevant. Zentrales Steuerungsinstrument der Bedarfsplanung sind die Verhältniszahlen. Diese beschreiben das Soll-Versorgungsniveau für die jeweilige Fachgruppe im Verhältnis zur Einwohnerzahl. Die Feststellung der Verhältniszahlen für die Fachgruppe Psychotherapie wurde seit Einführung der Bedarfsplanung kritisiert, da sie sich an der Zahl der bis 1999 zugelassenen Psychotherapeuten orientiert. Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie ist keine eigene Fachgruppe in der Bedarfsplanung, vielmehr gilt eine Quote von 20 Prozent aller Psychotherapeuten für diejenigen, die ausschließlich Kinder und Jugendliche psychotherapeutisch behandeln. Insofern kann die Bedarfsplanung in ihrer bisherigen Form den tatsächlichen Versorgungsbedarf bei der psychotherapeutischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen nicht sichern.
Die Bedarfsplanung muss daher so reformiert werden, dass ausreichend Versorgungsangebote für psychisch kranke Kinder und Jugendliche entstehen. Zielvorgabe soll ein Versorgungsangebot sein, dass traumatisierten Kindern und Jugendlichen unverzüglich ein Erstgespräch und zeitnah einen Therapieplatz ermöglicht. Als Kernelement einer Reform soll eine getrennte Bedarfsplanung für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie eingeführt werden. Diese würde in Folge einer Neufeststellung der Verhältniszahlen sowohl für Kinder und Jugendliche als auch für Erwachsene die Versorgung bei psychischen Erkrankungen durch steigende Zahlen zugelassener Psychotherapeuten verbessern. Vor Ort bedarf es eines belastungsfähigen Netzwerks aus Gesundheitsamt, Jugendamt, ambulanten Einrichtungen sowie regional niedergelassenen Therapeuten. Die Zusammenarbeit dieser Akteure könnte eine schnellere psychotherapeutische Betreuung von Kindern ermöglichen. Ergänzend würde der weitere Ausbau von Kinderschutzambulanzen in Nordrhein-Westfalen zusätzliche erste Anlaufstellen für Kinder und ihre Eltern schaffen. In Nordrhein-Westfalen werden bisher 22 Kinderschutzambulanzen durch die anteilige Übernahme von Personalkosten gefördert. Ziel sollte ein flächendeckender Ausbau von Kinderschutzambulanzen sein.
II. Beschlussfassung
Der Landtag fordert die Landesregierung auf,
- sich auf Bundesebene dafür einzusetzen, die psychotherapeutische Bedarfsplanung grundlegend zu reformieren, um Wartezeiten auf einen Therapieplatz drastisch zu verkürzen; dabei soll eine getrennte Bedarfsplanung für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie eingeführt werden.
- das Angebot an Therapieplätzen für Kinder mit Missbrauchserfahrung bedarfsorientiert und flächendeckend zu erhöhen.
- einen flächendeckenden Ausbau der Kinderschutzambulanzen zu fördern.
- die Vernetzung von Gesundheitsamt, Jugendamt sowie den Kinderschutzambulanzen und regional niedergelassenen Therapeuten zu fördern, um eine schnelle Bereitstellung eines Therapieplatzes zu gewährleisten.
- bei der Krankenhausplanung ein flächendeckendes und bedarfsorientiertes Angebot an Plätzen in der Kinder- und Jugendpsychotherapie vorzusehen.
- sich dafür einzusetzen, dass die Forschung an Hochschulen in NRW intensiviert wird, um zu untersuchen, welche Barrieren es gibt, die Kindern und Jugendlichen den Zugang zu Therapien erschweren, und wie diese abgebaut werden können.
- die Einrichtung von Lehrstühlen zu Kindern mit sexueller Gewalterfahrung und zur Traumatherapie in der Kinder- und Jugendpsychotherapie zu fördern.
- empirische Daten zu erfassen, wie viele Kinder und Jugendliche mit Missbrauchserfahrung psychotherapeutisch versorgt werden.