Wehret den Anfängen – Kinder- und Jugendkriminalität durch einen ganzheitlichen Ansatz begegnen

I. Ausgangslage

Nach Jahren des Rückgangs sind die Zahlen der Kinder- und Jugendkriminalität in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) für das Jahr 2022 bundesweit und auch in Nordrhein-Westfalen angestiegen. Bei fast jeder fünften Straftat, die 2022 in Nordrhein-Westfalen aufgeklärt wurde, gab es Tatverdächtige unter 21 Jahren.

Besorgniserregend ist vor allem die steigende Anzahl tatverdächtiger Kinder unter 14 Jahren auf knapp 21.000 im Jahre 2022 –über 40 Prozent mehr im Vergleich zum Jahr 2021. So nahm auch die Anzahl der Gewaltdelikte an Schulen, bei denen ein Messer oder eine Stichwaffe genutzt wurde, im Vergleich zum Jahr 2021 um 47 Prozent zu. Insgesamt stieg die Gewaltkriminalität in den Jahren 2019 bis zum Jahr 2022 um 19 Prozent, die Kriminalität an Schulen gar um 55 Prozent an. Eine wachsende Zahl tatverdächtiger Kinder und Jugendlicher bedeutet auch, dass mehr Kinder und Jugendliche Gefahr laufen, eine kriminelle Karriere als Intensivtäter einzuschlagen.

Der Begriff „Intensivtäter“ und das Phänomen der Kinder- und Jugendkriminalität sind in der Kriminologie als Schnittstelle zwischen Soziologie, Psychologie und Rechtswissenschaften Gegenstand intensiver Forschung. 

Intensivtäter sind eine kleine Gruppe von Kindern und Jugendlichen, die in einem bestimmten Zeitraum mehrfach oder schwerwiegend mit Straftaten in Verbindung gebracht wurden. Diese kleine Gruppe von sechs bis acht Prozent aller Tatverdächtigen eines Geburtsjahrgangs ist für mehr als die Hälfte der Straftaten verantwortlich und neigt dazu, auch im Erwachsenenalter (schwere) Straftaten zu begehen. Ungünstige Lebensumstände, Vernachlässigung, Gewalterfahrungen, ein fehlendes soziales Netz sowie mangelnde Bildungschancen sind einige der Risikofaktoren, die kriminelle Karrieren fördern
können.

In der Wissenschaft sowie in der Praxis besteht Einigkeit dahingehend, dass die Kinder- und Jugendkriminalität als ein komplexes soziales Problem betrachtet werden muss, für dessen Lösung ein ganzheitlicher Ansatz erforderlich ist. Es bedarf koordinierter Antworten von Schulen, Polizei, Justiz sowie der Kinder- und Jugendhilfe. Es müssen sowohl präventive als auch repressive Maßnahmen ergriffen werden, um kriminelle Karrieren frühestmöglich zu verhindern. Frühzeitige Interventionen, wie zum Beispiel der Ausbau von präventiven Bildungs- und Betreuungsangeboten, können versteckte Potenziale und Stärken der Kinder und Jugendlichen fördern und Risikofaktoren deutlich reduzieren. Es ist aber auch elementar, straffällig gewordenen Jugendlichen strafrechtlich konsequent zu begegnen, um sie mit Blick auf den
Erziehungsgedanken des Jugendstrafrechts von der Begehung weiterer Straftaten abzuhalten.

Wir wollen allen jungen Menschen –unabhängig von ihrer Herkunft und ihrer sozialen Situation – die Möglichkeiten geben, das Beste aus ihrem Leben zu machen. Gewalt und Kriminalität hindern Kinder und Jugendliche daran, ihr Potenzial zu nutzen und ihre Zukunft positiv zu gestalten. Daher muss dieser besorgniserregenden Entwicklung im Bereich der Kinder- und Jugendkriminalität entschiedenen entgegengetreten werden.

II. Beschlussfassung

Der Landtag stellt fest,

  • dass die Kinder- und Jugendkriminalität als dauerhaftes Phänomen die Gesellschaft vor besondere Herausforderungen stellt und eingedämmt werden muss.
  • dass die schon heute vorliegenden Erkenntnisse aus der Forschung und Wissenschaft, insbesondere der Kriminologie, genutzt werden müssen, um die Kinder- und Jugendkriminalität effektiv zu bekämpfen.
  • dass im Umgang mit straffällig gewordenen Kindern und Jugendlichen die Verhütung der Begehung weiterer Straftaten oberste Priorität haben muss.

Der Landtag beauftragt die Landesregierung,

  • 1. die Vernetzung der für die Bewältigung der Kinder- und Jugendkriminalität relevanten Stellen auszubauen und dafür zu sorgen, dass ein regelhafter Austausch der Akteure, insbesondere zu Informationen und Erkenntnissen über Kindeswohlgefährdung oder strafbare Handlungen, sichergestellt ist.
  • 2. Schulen und Bildungseinrichtungen für Kinder und Jugendliche mit den notwendigen personellen sowie finanziellen Mitteln auszustatten, um sie multiprofessionell in der Präventionsarbeit zu stärken. Dazu gehört insbesondere:
     
  • a) Der Ausbau der sozialen Arbeit in Schulen und Bildungseinrichtungen: Jede Schule in Nordrhein-Westfalen benötigt mindestens eine Schulsozialarbeiterin bzw. Schulsozialarbeiter.
  • b) Die Stärkung der Netzwerkarbeit zwischen Schulen, Jugendhilfe, Jugendämtern, kommunalen Einrichtungen, Unterstützungsinfrastruktur, Familien- und Familiengrundschulzentren, Frühförderung, Schulpsychologie und Sozialarbeit.
  • c) Der Ausbau des Austauschs mit Polizei, Feuerwehr und Rettungsdiensten, um die Leistung und den Wert der Einsatzkräfte und Rettungsdienste für unsere Gesellschaft zu verdeutlichen sowie Aufklärungsarbeit über die Folgen von strafbarem Verhalten aufzuzeigen.
  • d) Die flächendeckende Schaffung spezieller, kriminalpräventiver sowie auf die Förderung und Betreuung von gefährdeten Kindern und Jugendlichen ausgerichteter Bildungs- und Unterstützungsangebote.
  • e) Die Stärkung und der Ausbau der Schulpsychologie.
  • f) Fortbildungen und Schulungen für Lehrkräfte im Bereich der Kinder- und Jugendkriminalität anzubieten sowie multiprofessionelle Teams an Schulen als Ansprechpartner für Kinder, Jugendliche und Eltern zu etablieren bzw. zu stärken.
  • g) Kooperationsangebote mit der Wirtschaft und dem öffentlichen Dienst für Schülerpraktika auszubauen, um Kindern und Jugendlichen berufliche Perspektiven abseits eines Studiums und für unterschiedliche Schulabschlüsse, insbesondere mittlere Abschlüsse, aufzuzeigen. Hierbei sollte die aktuelle Allianz aus Bund und Ländern beim Ausbau der Jugendberufsagenturen mitgedacht werden und Nordrhein-Westfalen sich dafür stark machen, dass insbesondere Kinder- und Jugendliche aus Stadtteilen mit großen sozialen Herausforderungen und/oder ersten kriminellen Erfahrungen hier Berücksichtigung finden.
  • h) Schulleitungen in der Durchsetzung von schulischen Ordnungsmaßnahmen besser zu unterstützen, damit diese auch die erzieherische Wirkung entfalten und die Schulgemeinschaft geschützt werden kann. Dafür sollen zum Beispiel Kriseninterventionsteams (beispielsweise bei den Bezirksregierungen) zur schnellen Unterstützung von Schulleitungen und -gemeinschaften zur Verfügung stehen.
     
  • 3. die Kommunen stärker unmittelbar finanziell zu unterstützen, um die Arbeit der für die Kinder und Jugendlichen relevanten Stellen zu stärken und auszubauen. Dazu gehört vor allem,
     
  • a) die soziale Arbeit insbesondere in Stadtteilen mit großen sozialen Herausforderungen personell und materiell auszubauen und damit die vorhandenen Strukturen der Sozialarbeit, der Wohlfahrtsverbände und der Jugend- und Familienhilfe zu stärken. Hierbei muss insbesondere die Arbeit von Streetworkern forciert und unterstützt werden.
  • b) mehr Freizeiteinrichtungen für Kinder und Jugendliche, wie Jugendtreffs, einzurichten sowie das Angebot für Kinder und Jugendliche in den Ferien, an Nachmittagen und am Wochenende flächendeckend zu ermöglichen. Hierbei sollte insbesondere ein Sportangebot für Kinder und Jugendliche niederschwellig und erreichbar ermöglicht werden.
  • c) die Schaffung von Beratungsangeboten für von Kinder- und Jugendkriminalität betroffene Eltern und Angehörige. Um Eltern gezielt zu erreichen, sollten etwa die Familienzentren und Familiengrundschulzentren bedarfsgerecht, insbesondere in sozial herausfordernden Stadtteilen, ausgebaut werden.
     
  • 4. das Ehrenamt sowie freie Träger zu fördern und dabei zu unterstützen, Angebote für Kinder und Jugendliche auszubauen.
  • 5. gemeinsam mit den 186 Jugendämtern in Nordrhein-Westfalen Zielparameter zu definieren und zusätzliche finanzielle, aber auch fachliche Unterstützung für den Bereich der Kriminalitätsprävention zur Verfügung zu stellen.
  • 6. die Auswirkungen und Umsetzung des Gemeinsamen Runderlasses des Ministeriums des Innern, des Ministeriums für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration, des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales, des Ministeriums für Schule und Bildung und des Ministeriums der Justiz vom 19. November 2019 zur Zusammenarbeit bei der Verhütung und Bekämpfung der Jugendkriminalität zu evaluieren und entsprechend anzupassen.
  • 7. die Polizei sowie insbesondere die Justiz personell sowie materiell zu stärken, um auf Kriminalität von Kindern und Jugendlichen schnell und konsequent reagieren zu können.
  • 8. die kriminalpräventive Initiative „Kurve kriegen“ finanziell zusätzlich zu unterstützen und weiter auszubauen, sodass alle Kreispolizeibehörden in NRW eingebunden werden.
  • 9. Angebote zur Betreuung und Bildung im Rahmen der Jugendstrafen auszubauen und dabei insbesondere die Möglichkeit, schulische und berufliche Abschlüsse zu erlangen, einzubeziehen.
  • 10. zu prüfen, wie das Konzept „Diversion vor Strafe“ weiter verbessert und angewendet werden kann.
  • 11. das Konzept „Haus des Jugendrechts“ in der Fläche auszubauen.
  • 12. gemeinsam mit den relevanten Akteuren effiziente Koordinationsmechanismen festzulegen, bürokratische Hindernisse zu identifizieren und zu reduzieren sowie administrative Aufgaben zu minimieren.