Welche Konsequenzen zieht die Landesregierung aus den Ereignissen um die documenta fifteen?

Die alle fünf Jahre in Kassel stattfindende documenta gilt neben der Biennale in Venedig weltweit als wichtigste Präsentation für Gegenwartskunst. Ihr wiederkehrendes Selbstverständnis ist dabei das einer Institution zur objektiven Dokumentation der Gegenwartskunst. Der Schwerpunkt einer jeweiligen documenta liegt deshalb immer auf der Präsentation eines Querschnitts durch aktuelle Kunst aus der Perspektive des aktuellen Kurators bzw. der aktuellen Kuratorin, wobei die künstlerische Leitung alle fünf Jahre einen Wechsel erfährt.

Stand bei ersten documenta 1955 unter der Leitung von Arnold Bode die Abstrakte Kunst noch im Vordergrund mit dem Ziel, die in der NS-Zeit als „entartet“ bezeichneten Künstlerinnen und Künstler zu rehabilitieren und Deutschland in die Reihe der Kulturnationen wieder einzugliedern, hat sich der Fokus im Laufe der Jahre auf zeitgenössische Kunst verlagert. Dabei erweiterte sich sukzessive auch der Horizont der documenta von Werken aus Europa hin zu Kunst aus Amerika, Afrika und Asien.

Die Geschichte der documenta erfährt schon aus diesen Gründen seit ihrer ersten Ausstellung fortwährende Gegensätze und auch Brüche, die sich in unterschiedlichen künstlerischen und kuratorischen Haltungen, Philosophien und Theorien widerspiegeln und ebenso unterschiedliche gesellschaftliche Anschauungen ausdrücken. Deshalb war es nicht weiter verwunderlich, dass die nunmehr fünfzehnte Ausgabe im Juni 2022 ihren Blick immer weiter in Richtung des Globalen Südens öffnete und von einem Künstlerinnen- und Künstlerkollektiv aus Jakarta namens ruangrupa kuratiert wurde. Das Kollektiv legte der documenta die Werte und Ideen von lumbung – ein indonesischer Begriff für eine gemeinschaftlich genutzte Reisscheune – zugrunde, in deren Mitte Teilhabe, Austausch und Kommunikation liegen.

Diese besondere Herangehensweise der aktuellen documenta fifteen hat schon vor ihrem eigentlichen Beginn für kritische Stimmen gesorgt, als z. B. zu Beginn diesen Jahres dem Kuratorenkollektiv vorgeworfen wurde, bei der Ausstellung auch Organisationen einzubinden, die den kulturellen Boykott Israels unterstützten oder antisemitisch seien. Diese wurde von allen Ebenen weit zurückgewiesen, u. a. mit der Begründung, dass man sich zuerst die Ausstellung anschauen sollte, bevor sich über die künstlerische Auswahl auseinandergesetzt wird. Um diese Vorwürfe aus der Welt zu schaffen, sollte ein Experten-Forum einberufen werden, das über das Grundrecht der Kunstfreiheit in Anbetracht von zunehmenden Rassismus, Antisemitismus und Islamophobie in drei Veranstaltungsreihen diskutieren sollte. Als allerdings auch Kritik an der Zusammensetzung der verschiedenen Foren laut wurde, u.a. von dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland Josef Schuster, weil die Perspektive der jüdischen Gemeinschaft nicht eingebunden wurde, verzichtete man weiterhin auf klare Positionierung, Kommunikation oder gar Aufklärung. Stattdessen wurde die Veranstaltungsreihe kurzfristig abgesagt.

Die Kontroversen nahmen jedoch nicht ab, sondern steigerten sich vielmehr wenige Tage nach der Eröffnung am 18. Juni 2022, als antisemitische Motive auf einem Beitrag des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi entdeckt wurden. Auch der Umgang mit der großflächigen Banner-Installation „People´s Justice“ dieses Kollektivs zeugt nicht von einer konstruktiven Befassung mit den Vorwürfen, sondern eher von Überforderung: Wurde das Banner zuerst verhüllt und anschließend am darauffolgenden Tag abgebaut, wartete man vergeblich auf Diskussionen mit der Geschäftsführung, der künstlerischen Leitung der documenta und dem Künstlerkollektiv. Auch Dialoge darüber, was schiefgelaufen sei, wo weitere blinde Flecken auf der documenta zu finden seien, und eine generelle Klärung blieben aus. Stattdessen wurde durchweg beschwichtigt mit verschiedenen Statements und Absichtserklärungen, wie z. B. ergänzende externe Expertise einzuholen; eine öffentliche Debatte über die eindeutig antisemitische Bildsprache blieb jedoch aus. Was folgte, war letztendlich die Entlassung der Generaldirektorin Sabine Schormann am 17. Juli 2022.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich aus einem hehren und wertvollen Ansinnen, diese große und bedeutende Kulturschau durch Teilhabe zu öffnen und dabei gleichzeitig Gestaltungsfreiheit zu gewährleisten, ein Kommunikationsdesaster entwickelt hat, in dessen Zusammenhang verhalten reagiert und sich nicht klar positioniert wurde. Auch Interimschef Alexander Farenholtz möchte keine neuen Diskussionsforen über antisemitische Bildsprache während der laufenden Schau initiieren. Aktuell wird auf allen Ebenen über ein vorzeitiges Abbrechen der Schau diskutiert. Es scheint, dass die documenta fifteen Begebenheiten hervorgebracht hat, in deren Atmosphäre der internationale Kulturaustausch nicht mehr frei gelingen kann, und auch Kulturschaffende in ihrer Arbeit beeinträchtigt werden. Antisemitismusvorwürfe können gravierende Auswirkungen auf das künstlerische Schaffen haben, völlig unabhängig davon, ob sie bestätigt werden oder nicht. Solche Vorwürfe dürfen daher nicht verantwortungslos oder gar als strategisches Instrument in die Welt gesetzt werden, sondern benötigen immer eine reflektierende Ebene, damit keine ideologischen Gründe wirken können. Zugleich muss klar sein, dass Kunstfreiheit immer ihre Grenzen in Menschenfeindlichkeit findet.

Es bedarf einer öffentlichen und zugleich konstruktiven Auseinandersetzung, in welcher der Gesprächsfaden nicht abreißt, so dass man sachgerecht über Bedenken und Vorwürfe jeglicher Art diskutieren kann. Dabei ist es unerheblich, ob dies Antisemitismus, Postkolonialismus, Islamophobie oder Rassismus betrifft.

Nordrhein-Westfalen als wichtiges und vielfältiges Kulturland kann aus diesen Ereignissen rund um die documenta fifteen nur lernen. Es bleibt sicherlich nur eine Frage der Zeit, bis in der hohen und besonderen Vielfalt des Kunst- und Kulturangebotes NRWs ähnliche Debatten hervorgerufen werden. Ebenso lässt die internationale Vernetzung der hiesigen Kulturszene darauf schließen. Insbesondere die Förderungen des Landes lassen kein solches Kommunikationsversagen zu, sondern erfordern eine öffentliche und vor allem systematische Beschäftigung mit jeglicher Kritik, schon aus Respekt den Künstlerinnen und Künstlern gegenüber.

Vor diesem Hintergrund frage ich die Landesregierung:

  1. Wie will die Landesregierung sicher stellen, dass in NRW keine menschenverachtenden Darstellungen in den öffentlich geförderten Ausstellungen oder öffentlich geförderten Preisen gezeigt resp. gewürdigt werden?
  2. Was tut die Landesregierung, um über die verschiedenen Formen von Rassismus, Antisemitismus und Islamophobie in Kunst und Kultur aufzuklären? Inwieweit spielt dabei die entsprechende Kontextualisierung eine Rolle?
  3. Welche Maßnahmen ergreift die Landesregierung, um Rassismus, Antisemitismus und Islamophobie im kulturellen Raum sichtbar zu machen? Wie möchte die Landesregierung zu einer konstruktiven Auseinandersetzung dazu beitragen?

Dr. Werner Pfeil