Jetzt umsteuern und Weichen stellen für einen zeitgemäßen, attraktiven Arbeitsplatz Schule

I. Ausgangslage

800 Menschen haben im vergangenen Jahr 2022 ihren Schuldienst in Nordrhein-Westfalen gekündigt, darunter 286 verbeamtete Lehrkräfte. Damit hat sich die Anzahl dieser sog. Eigenkündigungen innerhalb von nur zehn Jahren verdreifacht. Die steigenden Zahlen der Kündigungen bei Lehrkräften sind alarmierend. Nicht nur ergreifen zu wenig Menschen den Lehrerberuf. Ebenso ist die Tendenz steigend, dass immer mehr Menschen aus dem System Schule vorzeitig aussteigen. Eine valide Ursachenforschung für die Entwicklungen bleibt von Seiten des Schulministeriums jedoch aus.

Der Frust bei denen, die das System verlassen, sitzt tief. Ehemalige Lehrkräfte berichten, ihre Kündigungen wurden ohne Hinterfragen der Gründe seitens der Schulbehörden hingenommen. Es fehlt offenbar an Personalmanagement oberhalb der Schulleitungsebene, welches den Verlust von Lehrkräften aufzuhalten versucht.

Dabei dürfte die Entscheidung, aus einem Beamtenverhältnis auszuscheiden, für die meisten eine schwerwiegende sein. Kündigungen des Beamtenverhältnisses sind mit erheblichen Einbußen verbunden, da die Pensionsansprüche entfallen und die betroffene Person gesetzlich nachversichert wird. Diese großen finanziellen Verluste nimmt man nur in Kauf, wenn die Ursachen dafür stark ins Gewicht fallen. Daher ist der Vergleich zu Jobwechseln in der freien Wirtschaft, wie ihn Schul- und Bildungsministerin Feller vorgetragen hat, unpassend.

Statt diesem Negativtrend wirksam entgegenzuwirken, mutet Ministerin Feller den Lehrkräften noch mehr Belastung zu und verwaltet sie wie Handelsware. Die Einschränkung von Teilzeit sowie die Ausweitung von Einsatzgebieten und Abordnungen schränken die persönlichen Freiheiten, etwa zur Gestaltung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, enorm ein.

Wir Freie Demokraten sind der Auffassung, dass sich die zu ergreifenden Maßnahmen gegen den Unterrichtsausfall nicht zum Nachteil der Lehrkräfte auswirken dürfen, die schon jetzt die ganze Last tragen. Stattdessen müssen sich die Bedingungen ändern, unter denen Lehrkräfte in Schulen arbeiten.

Der Lehrerberuf ist ein grundsätzlich attraktiver Beruf. Er birgt auch weiterhin ein enormes Potenzial, die junge Generation anzusprechen. Denn moralische und soziale Verantwortung als Anforderung an den Arbeitgeber werden von den Generationen Y und Z hoch angerechnet.

Ihnen ist die Sinnhaftigkeit ihrer Tätigkeit wichtig. Aber junge, gut qualifizierte Menschen finden sich heute auf einem Arbeitsmarkt wieder, der ihnen vielfältige Optionen bietet. Der Arbeitskräftemangel hat die Ansprüche von Arbeitnehmern erhöht, die sie an ihre Arbeitgeber stellen können. Junge Menschen verfügen über zunehmendes Selbstvertrauen, nur solche Arbeitsverhältnisse einzugehen, die ihren Ansprüchen gerecht werden. Dabei geht es auch, aber längst nicht mehr vorrangig um die Vergütung. Wertschätzung, Anerkennung und Kommunikation auf Augenhöhe sind nur einige Stichworte, die von führenden Experten im Bereich HR und Employer Branding als wichtige Merkmale einer Unternehmenskultur angeführt werden, die Absolventinnen und Absolventen anspricht. Der Öffentliche Dienst und der Lehrerberuf stehen auf diesem Arbeitsmarkt in direkter Konkurrenz zu den Arbeitgebern der freien Wirtschaft.

Wir Freien Demokraten wollen den Arbeitsplatz Schule so gestalten, dass er für junge Menschen wieder attraktiver wird und seine Vorteile ausspielen kann, um Menschen den Weg in die Schule als Lehr- oder Fachkraft zu ebnen. Es dürfen daher keine Maßnahmen zur Verschlechterung der Arbeitsplatzattraktivität ergriffen werden, wie zum Beispiel mehr Arbeitszeit für Lehrkräfte und Referendare, Teilzeit- oder Sabbaticalverbote. Denn so gewinnen wir nicht nur keine neuen Lehrkräfte, sondern wir verlieren auch noch viele aus dem System Schule.

Wir müssen jetzt alles tun, um die Begeisterung für die Vermittlung von Bildung nicht im Keim zu ersticken, sondern ihr Raum geben!

Wir fordern NRW-Schulministerin Dorothee Feller auf, ihr Maßnahmenpaket zur Bekämpfung des Lehrermangels zu überarbeiten und insbesondere die Lehrkräfte und ihre Arbeit mehr wertzuschätzen. Das Schulministerium setzt aktuell fast ausschließlich auf die Methode „Brechstange“, indem sie Lehrerinnen und Lehrer zwangsversetzt oder anordnet, die Teilzeitmöglichkeiten einzuschränken. Wir Freie Demokraten kritisieren seit langem, dass mangelnde Wertschätzung der Lehrkräfte zu Kündigungen führt. Und wir befürchten für 2023 einen neuen Höchststand bei den Kündigungen, wenn die Ministerin jetzt nicht umsteuert.

Es reicht aber nicht aus, die eingeleiteten Maßnahmen zurückzunehmen. Für einen zeitgemäßen und attraktiven Arbeitsplatz Schule braucht es Veränderung. Dazu muss sich die Landesregierung ein umfassendes Bild davon machen, inwiefern sich die Ansprüche an den Arbeitsplatz Schule bei denjenigen, die sich grundsätzlich für den Beruf interessieren und denjenigen, die ihn bereits ausüben, von denen in der Wirtschaft unterscheiden und wie man diese Menschen dann tatsächlich gewinnen kann.

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wünschen sich heute vor allem eine offene und ehrliche Kommunikation und Unternehmenskultur. Um dies für den Arbeitsplatz zu transferieren, braucht es dort vor allem gestärkte Schulleitungen, die sich ihrer Führungsrolle zuwenden können und Handhabe haben, ihr Personal zu führen. Dafür benötigen sie entsprechende Freiheiten und auch finanzielle Mittel zur schuleigenen Verwaltung. Wir fordern daher, doppelte Leitungen zu etablieren. Im Interesse einer effizienten und professionellen Arbeitsteilung soll eine pädagogische Leitung im Zusammenwirken mit allen Lehrkräften den jeweiligen Schulentwicklungsprozess vorantreiben. Eine administrative Leitung kann daneben im Zusammenwirken mit allen anderen Beschäftigten und im Zusammenwirken mit dem Schulträger eine unterstützende Funktion übernehmen. 

Die Schulautonomie wollen wir weiter stärken und den Schulen mehr pädagogische, personelle und finanzielle Freiheiten geben. Die Bedarfe der Schulen sind ebenso divers wie die Schulstandorte in Nordrhein-Westfalen. Schulen sollten daher in ihrer Autonomie weiter gestärkt werden und ein selbstverwaltetes Budget erhalten, mit welchem jede Schulleitung die für ihre Schule notwendige Unterstützung selbst organisieren kann. Wir sind überzeugt davon, dass gerade in herausfordernden Zeiten, die Schulen vor Ort am besten wissen, was und wen sie brauchen.

II. Beschlussfassung

Der Landtag stellt fest:

  • Das aktuelle Konzept zur Sicherung der Unterrichtsversorgung der Landesregierung beinhaltet zahlreiche Maßnahmen, die die Lehrkräfte zusätzlich belasten. Dazu zählen Teilzeiteinschränkungen, Abordnungen ohne Einverständnis der Lehrkräfte und Ausweitung des Radius des Einsatzes nach Rückkehr aus der Beurlaubung oder Freistellung. Die Forderungen der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der KMK gehen noch weiter und beinhalten mehr Arbeitszeit für Lehrer und Referendare.
  • Der Lehrerberuf verliert durch die Maßnahmen der Landesregierung an Attraktivität.
  • Verschlechterte Arbeitsbedingungen werden nicht zu mehr, sondern zu weniger erteiltem Unterricht führen, weil sie noch mehr belastungsbedingte Ausfälle und Kündigungen nach sich ziehen.
  • Vielfältige Karriereoptionen für junge Menschen machen es zudem zunehmend notwendig, den Arbeitsplatz Schule zeitgemäßer und attraktiver zu gestalten, um Nachwuchskräfte zu gewinnen.

Der Landtag fordert die Landesregierung auf,

  • sich ein umfassendes Bild zu machen, aus welchen Gründen der Lehrerberuf für viele Menschen offenbar nicht mehr leistbar ist oder gar nicht erst ergriffen wird und zu diesem Zwecke
    • zu ermitteln, welche Gründe hinter dem Anstieg der Kündigungen von Lehrkräften in Nordrhein-Westfalen stehen;
    • zu ermitteln, aus welchen Gründen Lehramtsanwärter nicht in den Vorbereitungsdienst und Lehramtsabsolventen nicht in den Schuldienst einsteigen;
    • zu ermitteln, warum Lehrkräfte dienstunfähig werden und ob die Zahl ebenfalls wie bei den Kündigungen steigt;
    • die Zahl der Studienabbrecher/Wechsler im Lehramtsstudium und dahinterliegende Gründe zu ermitteln.
  • die geplanten Maßnahmen zur Verschlechterung der Arbeitsplatzattraktivität zurückzunehmen: Teilzeitverbote, Abordnungen ohne Einverständnis der Lehrkräfte und Ausweitung des Radius des Einsatzes nach Rückkehr aus der Beurlaubung oder Freistellung.
  • sich ein umfassendes Bild über notwendige Veränderungen bei den Arbeitsbedingungen zu machen, um diese zeitgemäßer zu gestalten, zum Beispiel durch Befragungen.
  • das Konzept Unterrichtsversorgung um Maßnahmen zu ergänzen, die die Lehrkräfte entlasten, so u.a.
    • Einstiegsgehälter für Seiteneinsteiger attraktiver gestalten;
    • angemessene Vergütung für Vertretungslehrkräfte;
    • mit passenden Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen den Eintritt sowie Verbleib im Schuldienst attraktiver machen; 
    • Einstellungsmöglichkeiten für Praxislehrer auf Honorarbasis schaffen bzw. auszuweiten, die einzelne Kurse übernehmen könnten, zum Beispiel mit einem Modellversuch;
    • kritische Überprüfung der Lehrpläne hinsichtlich möglicher Entschlackung;
    • Stellen für Schulverwaltungsassistenz ausbauen und den Einsatz ohne Einbringen von Leitungszeit und Anrechnungsstunden ermöglichen;
    • finanzielle Ressourcen für die autonome Einstellung unterstützenden Personals durch die Schulen schaffen.
  • ein Konzept zu einem modernen Arbeitsplatz Schule entwickeln, welches u.a. folgende Aspekte umfasst:
    • zeitgemäßes Personalmanagement statt Abordnungen;
    • zeitgemäße Arbeitsplatzausstattung für Lehrkräfte;
    • Stärkung der Schulleitungen, zum Beispiel durch Ermöglichung von zwei aufgeteilten Leitungsstellen (Pädagogik/Administration) etablieren;
    • Stärkung der Schulautonomie durch mehr pädagogische, personelle und finanzielle Freiheiten für die Schulen z. B. mit mehr selbstverwaltetem Budget;
    • Aufwandsentschädigung in den Praxissemestern des Lehramtsstudiums orientiert am BAföG;
    • den berufsbegleitenden Master of Education und Vorbereitungsdienst für alle Schulformen und Bildungsgänge ermöglichen;
    • mehr Praxisbezug im Studium, damit Studierende eine realistische Vorstellung ihrer Tätigkeit bekommen und besser vorbereitet in den Vorbereitungsdienst eintreten;
    • den Vorbereitungsdienst zeitgemäßer, praxisorientierter und passgenauer gestalten, auch hinsichtlich übergreifender schulischer Herausforderungen wie Inklusion, Integration oder Digitalisierung.