Zwischensprint nötig - Mehr Anstrengung im Kampf gegen den Fachkräftemangel in der frühkindlichen Bildung

I. Ausgangslage

In Nordrhein-Westfalen und vielen anderen Regionen Deutschlands herrscht ein erheblicher Mangel an Fachkräften in der frühkindlichen Bildung. Der Ländermonitor 2021 der Bertelsmann Stiftung weist aus, dass aktuell in NRW bis zu 24.000 Fachkräfte fehlen. Dieser Bedarf wächst, insbesondere vor dem Hintergrund von rund 101.600 fehlenden Betreuungsplätzen.

Die Gründe für den Fachkräftemangel sind vielfältig und reichen von schlechten Arbeitsbedingungen und geringer Bezahlung bis hin zu fehlender Wertschätzung und Anerkennung des Berufs. Insbesondere in ländlichen Regionen und strukturschwachen Gebieten ist es oft schwierig, qualifiziertes Personal zu finden und zu halten.

Dieser Fachkräftemangel hat erhebliche Auswirkungen auf die Qualität der frühkindlichen Bildung und Betreuung. Wenn zu wenige Fachkräfte zur Verfügung stehen, leidet die individuelle Förderung und Betreuung der Kinder, was langfristig negative Auswirkungen auf ihre Entwicklung haben kann. Fehlende oder sich reduzierende Betreuungsangebote stellen zudem die Eltern vor besondere Herausforderungen.

Der aktuelle hohe finanzielle Druck durch Inflation und Energiekosten setzt das System der frühkindlichen Bildung, neben dem Fachkräftemangel, noch zusätzlich unter Druck. Hierbei gilt es den Trägern stützend unter die Arme zu greifen, sodass diese bestehende Doppelbelastung einem drohendenden Kollaps nicht endgültig Vorschub leistet. Im gesamten Bundesland sind Meldungen zu vernehmen, unter welchem Stress das System der frühkindlichen Bildung steht. Erste Ausfälle kündigen die schweren Folgen des Fachkräftemangels an. So musste beispielsweise eine Kita in Bergisch Gladbach den Betreuungsumfang aufgrund des Mangels an Erzieherinnen und Erziehern um die Hälfte reduzieren. Dies kann auch andere Kinder und ihre Eltern vermehrt treffen, wenn nicht entsprechende Maßnahmen getroffen werden. Insbesondere Kinder aus Familien mit geringerem Einkommen und solche, deren Familiensprache nicht Deutsch ist, die also besonders von frühkindlicher Betreuung profitieren können, laufen Gefahr, bei einer sich verschärfenden Situation mit Blick auf eingeschränkte Betreuungskapazitäten das Nachsehen zu haben Dies untermauert eine aktuelle Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB).

Ohne Zweifel stellt der Kampf beziehungsweise die Umsetzung von Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel in der frühkindlichen Bildung sinnbildlich einen Marathon dar. Die akute Dringlichkeit zur Umsetzung von effektiven Maßnahmen muss aber als nötiger Zwischensprint auf der langen Strecke verstanden werden.

In der letzten Legislatur hat die damalige schwarz-gelbe Landesregierung trotz schlechter Vorbedingungen mit einem Kita-Rettungsprogramm Stabilität ins System zurückgebracht und Träger vor der Aufgabe bewahrt. Damit wurden Plätze und Fachpersonal im System gehalten. Zudem wurden rund 80.000 Kita-Plätze und 30.000 neue Fachkraftstellen geschaffen. Die Zahl der Studienplätze für die berufliche Fachrichtung Sozialpädagogik wurde von 40 auf über 140 vervielfacht. Des Weiteren wurden 18 Prozent mehr Erzieherinnen und Erzieher ins System geholt und die Kinderpfleger gestärkt. Gleichwohl ist festzustellen, dass dies noch nicht ausreichend war, da die Erwartungshaltung und die Problemlagen riesig sind. Es braucht daher weiterhin ein solch konsequentes Vorgehen – bei gleichzeitigem Pragmatismus, Nötiges schnell umzusetzen.

Es ist notwendig, den Beruf der Erzieherin und des Erziehers attraktiver zu gestalten, um mehr junge Menschen für diesen Beruf zu begeistern und den vorhandenen Fachkräftebestand zu stabilisieren. Dazu gehört neben einer besseren Bezahlung auch eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, mehr Wertschätzung und Anerkennung sowie eine gezielte (Nachwuchs-) Förderung und Qualifizierung. Auch muss das System der frühkindlichen Bildung sich weiter Quereinsteigern öffnen.

Das „Sofortprogramm KiTa“ der schwarz-grünen Landesregierung ist allerdings bei Weitem nicht der dringend benötigte große Wurf für die frühkindliche Bildung in Nordrhein-Westfalen. Durch eine starke Fokussierung auf die Möglichkeit zur Schaffung von zusätzlichen Ersatzkräften wird nur unzureichend beantwortet, wie neue Fachstellen geschaffen und besetzt werden können.

Völlig außer Acht lässt das Sofortprogramm die Möglichkeit, den Fachkräftemangel in der frühkindlichen Bildung mit den Chancen der Fachkräfteeinwanderung zu begegnen. Auch in diesem Bereich braucht es schnelle und pragmatische Anpassungen, um Potenziale abzugreifen und echte zusätzliche Fachkräfte in das System zu bringen.

Voraussetzung für die Fachkräfteeinwanderung ist die Anerkennung von ausländischen Bildungsabschlüssen bzw. Berufsqualifikationen. Die Bewertung erfolgt auf gesetzlicher Grundlage durch die zuständigen Stellen bei den Bezirksregierungen in Nordrhein-Westfalen und bezieht sich stets auf individuelle Anträge. Den rechtlichen Rahmen für Anerkennungsverfahren liefert dabei das Gesetz zur Feststellung der Gleichwertigkeit ausländischer Berufsqualifikationen in Nordrhein-Westfalen (BQFG NRW). Die Verfahren sind nötig, sie müssen aber deutlich verschlankt und beschleunigt werden, da sie sonst weiterhin einen Flaschenhals für die dringend benötige Einwanderung von Fachkräften darstellen. Auch die Verfahren der Trägeranerkennung brauchen eine Aufwertung sowie eine Beschleunigung.

Die schnelle Anerkennung von ausländischen Bildungsabschlüssen im Erzieherberuf ist von großer Bedeutung, da sie dazu beiträgt, den Fachkräftemangel in diesem Bereich zu verringern und die Qualität der Betreuung in Kindertageseinrichtungen zu erhöhen. Durch die Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse können qualifizierte Erzieherinnen und Erzieher aus anderen Ländern schneller und einfacher in Deutschland arbeiten, ohne ihre Ausbildung hierzulande wiederholen zu müssen. Des Weiteren können wertvolle Ressourcen und Zeit gespart werden, die in die Fortbildung und Professionalisierung der Erzieher investiert werden können. Zudem trägt die Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse zur Integration von Menschen mit Einwanderungsgeschichte bei und stärkt die Vielfalt in Kindertageseinrichtungen.

Insgesamt wurden im Zeitraum von 2015 bis einschließlich 2021 4.452 Anerkennungsverfahren in NRW bearbeitet. Hierbei wurden 1.404 der bearbeiteten Verfahren im gleichen Zeitraum die volle Gleichwertigkeit durch die Bezirksregierungen beschieden (31,5 Prozent aller bearbeiteten Verfahren) und insgesamt 783 Verfahren wurde eine Ausgleichmaßnahme zum Erwerb der Gleichwertigkeit auferlegt. Es zeigt sich, dass hier wertvolle Potenziale zu heben sind, die dringend für das System der frühkindlichen Bildung in Nordrhein-Westfalen benötigt werden.

 

II. Beschlussfassung

Der Landtag stellt fest,

  • dass der Fachkräftemangel im Bereich der frühkindlichen Bildung ein signifikantes Problem für die Betreuung von Kindern und insbesondere für die Qualität der frühkindlichen Bildung in Nordrhein-Westfalen darstellt.
  • dass die Bekämpfung des Fachkräftemangels in der frühkindlichen Bildung sinnbildlich einen Marathon darstellt, in dessen Verlauf aber ein Zwischensprint nötig ist, um am Ziel anzukommen.
  • dass Maßnahmen zur Aufstockung von Ergänzungskräften in den Kindertagesstätten von Nordrhein-Westfalen sinnvoll sind und benötigt werden, aber nicht ausreichend sind.
  • dass es einer pragmatischen Herangehensweise bei der Umsetzung von kurz-, mittel- und langfristigen Maßnahmen zur Gewinnung von Fachkräften bedarf.
  • dass die Chancen der Fachkräfteeinwanderung für den Bereich der frühkindlichen Bildung vollumfänglich und pragmatisch ausgenutzt werden müssen. Der Landtag fordert die Landesregierung auf,
  • das System der frühkindlichen Bildung finanziell zu stabilisieren, indem
    • mit den Trägern der freien Jugendhilfe und den kommunalen Spitzenverbände die Finanzbedarfe schnellstmöglich (bis zum 01.06.2023) berechnet werden,
    • die Dynamisierung der Kindpauschalen nach den neuen Tarifabschlüssen bei den Personalkosten mit einem Verrechnungsmodell vorgezogen wird,
    • eine Härtefallreglung entwickelt wird, die im Notfall bestehende Infrastruktur erhält, o der angekündigte Zeitplan zur Reform des Kinderbildungsgesetzes (KiBiz) revidiert und die Reform schneller umgesetzt wird, um die Landschaft der frühkindlichen Bildung in NRW für mögliche zukünftige Krisen besser vorzubereiten,
    • dem Landtag eine Neugestaltung der Trägeranteile bis Ende des Jahres 2023 vorgelegt wird,
    • Kostensteigerungen der Tagespflegepersonen durch eine entsprechende Anpassung der Landeszuschüsse aufgefangen werden.
  • bestehendes Personal im System der frühkindlichen Bildung zu halten, indem
    • mehr Durchlässigkeit für Aufstieg im System geschaffen wird, durch modulare Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen sowie Entwicklungsaufgaben innerhalb der Einrichtung, bei denen Fachlichkeit im Vergleich zu Qualifikation pragmatisch berücksichtig wird,
    • ein landesseitiges Anreizprogramm geschaffen wird, um Fachkräfte im Renteneintrittsalter länger im System zu halten,
    • ein Förderprogramm zur Reduktion von Lärm in den Räumlichkeiten von Kindertageseinrichtungen (Verbesserung der Raumakustik) aufgelegt wird,
    • das Alltagshelferprogramm verstetigt und ausgebaut wird,
    • Fachkräfte im Bereich Verwaltung eingesetzt werden, um die pädagogischen Fachkräfte zu entlasten,
    • Leitungskräfte der Kitas ein Mitspracherecht gegenüber den Trägern beim Personaleinsatz eingeräumt wird.
  • neues Personal für das System der frühkindlichen Bildung zu gewinnen, indem
    • landesseitig die Träger bei der praxisintegrierten Ausbildung von Erzieherinnen und Erzieher finanziell stärker unterstützt werden,
    • die Förderung der praxisintegrierten Ausbildung Kinderpfleger und Kinderpflegerin erneut aufgestockt wird,
    • der Quereinstieg für Interessierte weiter geöffnet wird. Hierbei sind folgende Aspekte zu berücksichtigen:
      • Eine systematische Anrechnung als Fachkraft in einem gestuften Verfahren ist vorzusehen. Gerade zu Beginn darf ein Quereinsteiger keine Fachkraft ersetzen.
      • Es wird eine Quote bei Quereinsteigern und auszubildenden Personen im Verhältnis zu Fachkräften benötigt, damit nicht ausreichend qualifiziertes Personal entsprechend durch Fachkräfte angeleitet und geführt wird.
    • die angekündigte Ausweitung des Integrationsbegleiterinnen-Projekts zusätzlich für männliche Integrationsbegleiter geöffnet wird,
    • eine neue Regelung in der Personalvereinbarung geschaffen wird, die den Zugang für Bewerberinnen bzw. Bewerber aus dem (EU-)Ausland, die gezielt und ausschließlich eine Tätigkeit in einer Kindertageseinrichtung anstreben, erleichtert,
      • für die laufende Legislatur Zielwerte für die Anzahl von anerkannten Anträgen zur Anerkennung von ausländischen Fachabschlüssen pro Jahr im Bereich der Kindererziehung festzulegen und mit Hilfe eines Benchmarking-Prozesses diese zu überprüfen und gegebenenfalls nachzusteuern,
      • die Anzahl der Stellen zur Bearbeitung von Anträgen zur Anerkennung eines ausländischen Fachabschlusses im Bereich Kindererziehung in den Bezirksregierungen aufzustocken und perspektivisch die Aufgabe der Antragsbearbeitung bei einer Bezirksregierung zu bündeln,
      • durch Maßnahmen der Digitalisierung das Antragsverfahren und die Bearbeitung der Anträge signifikant schneller zu gestalten,
      • mit Blick auf die individuelle Gleichwertigkeitsprüfung pragmatische Gleichwertigkeitskriterien zu definieren, die pauschale Anerkennungen ermöglichen und die Notwendigkeit von Anpassungsqualifizierungen oder einer Eignungsprüfung reduzieren, bei gleichzeitiger Sicherstellung von wichtigen Qualitätsstandards,
      • die Kosten für Beglaubigungen und Übersetzungen ausländischer Urkunden, die für die Anerkennung des Bildungsabschlusses relevant sind, werden landesseitig übernommen,
      • und beschleunigte Verfahren der Trägeranerkennung zu realisieren, auszuweiten und verstärkt auf dieses Instrument zu setzen.
    • geprüft wird, ob Zusatzkräfte mit Erfahrung im Kinder- und Jugendbereich, wie z.B. Jugendleiter-Card-Inhaber (Juleica) oder Übungsleiter, in Kindertageseinrichtungen sinnvoll ergänzend eingesetzt werden können,
    • weitere Pilotprojekte ermöglicht und unterstützt werden, damit neue Ideen erprobt werden können.
  • Bürokratie in den Kindertagesstätten abzubauen, indem
    • nur die relevante Dokumentation fortgesetzt werden muss. Weitere Dokumentationspflichten, die nicht der pädagogischen Arbeit sowie der Verhütung von Kindeswohlgefährdung dienen, werden bis Ende 2024 ausgesetzt und auf Sinnhaftigkeit und Effizienz überprüft. Bestenfalls wird die Dokumentation bis Ende 2024 vollständig digitalisiert.
  • die Betreuungskapazitäten in der frühkindlichen Bildung in NRW auszubauen, indem
    • die finanziellen Mittel für die bestehende Platzausbaugarantie mit Blick auf die bestehenden Preissteigerungen überprüft und entsprechend angepasst werden,
    • hierbei auch ein Schwerpunkt in sozialschwachen Räumen in NRW gelegt wird sowie die Brückenprojekte für Kinder mit Fluchterfahrung ausgebaut werden.

Fachlich zuständige Abgeordnete: Henning Höne, Marcel Hafke, Susanne Schneide, Marc Lürbke