Krise braucht Klarheit: Hilfen für Menschen, Betriebe, soziale Infrastruktur und Kommunen in Nordrhein-Westfalen rechtssicher auf den Weg bringen!

I. Ausgangslage

Die vielschichtige Krisenlage in Folge des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine stellt Menschen, Betriebe, soziale Einrichtungen und Kommunen in Nordrhein-Westfalen vor enorme Herausforderungen. Viele Menschen haben mit Blick auf die Energiekrise und die Rekordinflation Existenzsorgen. Dem Industriestandort Nordrhein-Westfalen droht mit seinen vielen energieintensiven Betrieben ein Strukturbruch mit einem dauerhaften Verlust von vielen Tausend gut bezahlten Arbeitsplätzen. Aufgrund der stark gestiegenen laufenden Kosten bestehen in vielen Einrichtungen, Initiativen und Betrieben der sozialen Infrastruktur Deckungslücken. Auch hier drohen heruntergefahrene Tätigkeiten und Betriebsaufgaben. Die NRW-Kommunen stemmen sich gegen Kostensteigerungen und hohe Energiepreise und arbeiten zeitgleich mit größtem Einsatz daran, schutzbedürftige geflüchtete Menschen bestmöglich zu versorgen.

Es ist Aufgabe des Staates, in dieser Krisenlage zu helfen und niemanden mit seinen Sorgen alleine zu lassen. Die von der Ampel-Koalition getragene Bundesregierung hat sehr schnell und umfassend auf die Krisenlage reagiert und viele Entlastungsmaßnahmen auf den Weg gebracht. Ein zentraler Baustein sind die Energiepreisbremsen im Rahmen des 200 Milliarden Euro umfassenden Abwehrschirms des Bundes. Sie werden im kommenden Jahr einen wichtigen Beitrag liefern, damit Deutschland und Nordrhein-Westfalen diese Krise bewältigen können. Neben dem Bund sind aber auch die Länder gefordert, verbleibende Lücken in den beschlossenen Entlastungsmaßnahmen zu schließen.

Die Fraktionen von SPD und FDP haben in den letzten Monaten sehr früh in unzähligen Plenardebatten zur Krisenlage eigene Kraftanstrengungen von der schwarz-grünen Landesregierung eingefordert. Im Rahmen der Beratungen des Mitte September 2022 vorgelegten ersten Nachtragshaushaltsgesetzes 2022 (Drs. 18/900) haben beide Fraktionen umfangreiche und substantielle eigene Vorschläge für schnelle landesseitige Hilfsmaßnahmen vorgelegt. Alle eingebrachten Vorschläge wurden von den regierungstragenden Fraktionen von CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abgelehnt.

Neben der Einbringung eigener Entlastungsinitiativen haben die Fraktionen von SPD und FDP sehr früh Gesprächsbereitschaft gegenüber der Regierungskoalition für den Fall signalisiert, dass der Umfang der erforderlichen landesseitigen Hilfsmaßnahmen und/oder die Einnahmesituation des Landes eine ergänzende Kreditaufnahme in der Krise erforderlich machen sollte.

Doch statt die vielschichtige Krisenlage mit der gebotenen Ernsthaftigkeit zu bewerten und Handlungsoptionen transparent auszuloten, haben Landesregierung und Regierungsfraktionen in historisch kurzen Haushaltsberatungen mit mehreren Kehrtwenden ein nie dagewesenes Chaos angerichtet: Am (vorläufigen) Ende stehen mit dem zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2022 (Drs. 18/1950) und dem korrespondierenden NRW-Krisenbewältigungsgesetz (Drs. 18/1951) zur Errichtung eines neuen Sondervermögens am heutigen Tage Gesetzesentwürfe zur Abstimmung, bei denen sowohl der Landesrechnungshof Nordrhein-Westfalen als auch geladene Gutachter im Rahmen der Anhörung des Haushalts- und Finanzausschusses massive verfassungsrechtliche Bedenken hinterlegt haben.

Für SPD und FDP ist klar: Die Lage ist für eine derartige Irrfahrt zu ernst! Zielgerichtete Hilfs- und Unterstützungsangebote müssen Menschen, Betriebe, Einrichtungen und Kommunen in Nordrhein-Westfalen rechtssicher im Einklang mit unserer Verfassung erreichen. Darum müssen verbleibende verfassungsrechtliche Bedenken an den Plänen der Landesregierung endlich ernstgenommen und hinreichend aufgegriffen werden.

1.) Grundgesetzliche Unterscheidung zwischen Rezession und „Notlage“ im Sinne der Schuldenbremse ernst nehmen

Artikel 109 Absatz 3 Satz 2 Grundgesetz erlaubt eine Nettokreditaufnahme auf unterschiedlichen Wegen: Einerseits zur im Auf- und Abschwung symmetrischen Berücksichtigung der Auswirkungen einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung (Konjunkturausnahme). Andererseits zur Bewältigung von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen (Notlagenausnahme). Aus der Binnensystematik dieser Verfassungsbestimmung ergibt sich, dass eine – auch tiefe –Rezession allein noch keine Notlage darstellt.

Die Voraussetzungen der Konjunkturausnahme sind ausführlich gesetzlich geregelt (§ 18a Absatz 3, §§ 18c ff. Landeshaushaltsordnung). Diese mit gutem Grund aufgestellten Regeln dürfen nicht unter pauschaler Annahme einer Notlage unterlaufen werden. Ein Beispiel für die aufgestellten Regeln im Falle einer ergänzenden Kreditaufnahme nach der Konjunkturausnahme sind verbindliche und zeitnahe Tilgungspflichten, sobald sich die konjunkturelle Situation nach der Krise wieder verbessert hat. Der den heute zu beschließenden Gesetzesentwürfen zu Grunde liegende Beschluss „zur Feststellung einer außergewöhnlichen Notsituation nach § 18 b Landeshaushaltsordnung (LHO) in Verbindung mit Art. 109 Abs. 3 S. 2, 2. Alternative GG“ (Drs. 18/1973) bemüht jedoch nicht die Konjunkturausnahme, sondern ausdrücklich die Notlagenausnahme der Schuldenbremse. Dieser Notlagenbeschluss wurde mit den Stimmen der Regierungskoalition aus CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der Opposition am 7. Dezember 2022 – ohne ausreichende vorherige Beratungszeit – in der 16. Plenarsitzung der 18. Wahlperiode gefasst. Die vorgelegte Begründung stützt sich allerdings hauptsächlich auf rein konjunkturelle Argumente und droht damit an der gewählten Ausnahme der Schuldenbremse vorbeizugehen. Im Haushalts- und Finanzausschuss am 15. November 2022 räumte der Finanzminister allerdings noch ein, die Möglichkeit der konjunkturellen Komponente nach § 18 c LHO gar nicht in Betracht gezogen zu haben.

Mit Blick auf die oben genannte Binnensystematik der Verfassungsbestimmungen zur Schuldenbremse dürfte eine Rezession allein nur dann unter die Notlagenausnahme fallen, wenn sie katastrophengleiche Ausmaße annähme. Die von der Landesregierung bemühten Konjunkturindikatoren erscheinen jedoch selektiv gewählt und stützen eine solche Argumentation im Sinne der Notlagenausnahme nicht:

So hat die NRW-Bank in ihrem am 1. Dezember 2022 vorgelegten Bericht „NRW.BANK.ifo-Geschäftsklima – November 2022“ beispielsweise festgestellt, dass sich die Stimmung in der nordrhein-westfälischen Wirtschaft im November 2022 zum ersten Mal seit Mai 2022 wieder aufgehellt habe. Mit den laufenden Geschäften seien die Unternehmen zwar weniger zufrieden gewesen, aber der Pessimismus mit Blick auf die kommenden Monate habe merklich nachgelassen. Die Rezession dürfte nicht so tief ausfallen, wie noch vor einigen Wochen erwartet worden sei. Diese Vorhersage wird von der Konjunkturprognose des Münchner ifo-Instituts vom 14. Dezember 2022 untermauert. Auch der Arbeitsmarkt zeigt sich – anders als zu Beginn der Corona-Pandemie – bisher noch vergleichsweise robust. Die Bundesagentur für Arbeit, Regionaldirektion Nordrhein-Westfalen, Presse-info Nr. 36 vom 30. November 2022, meldet, dass die Zahl der arbeitslos gemeldeten Menschen in NRW im November leicht gesunken, die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Menschen gestiegen sei und landesweit im November 39 Anzeigen auf Kurzarbeit weniger als einen Monat zuvor bei den Agenturen für Arbeit eingegangen seien.

2.) Argumentationsweise in Bezug auf die Corona-Pandemie widersprüchlich

Im Sinne einer rechtssicheren und verfassungsfesten Begründung darf die Corona-Pandemie nicht als Scheinargument herangezogen werden. In der Argumentation des Notlagebeschlusses (Drs. 18/1973, S. 2) vom 7. Dezember 2022 wird zur Begründung der Krediterfordernis und des neu einzurichtenden Sondervermögens unter anderem darauf verwiesen, dass die Folgen der weltweiten Corona-Pandemie weiterhin zu spüren seien. Hierzu ist festzuhalten, dass die Landesregierung noch in der Begründung zu ihrem unter dem 9. November 2022 veröffentlichten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung eines Sondervermögens zur Finanzierung aller direkten und indirekten Folgen der Bewältigung der Corona-Krise (NRW-Rettungsschirmgesetz, Drs. 18/1501) angegeben hat, dass „das Ausmaß der Pandemie deutlich abgenommen“ habe und deshalb jenes Sondervermögen „nicht mehr geeignet“ sei. Dass sich die Beurteilungsgrundlage hinsichtlich der Pandemie in der Zwischenzeit derart verändert hätte, dass die jetzige, gegenteilige Bewertung überzeugen könnte, ist weder dargetan noch ersichtlich. Im Gegenteil: Der Minister der Finanzen hat am 8. Dezember 2022 im Landtag gesagt, zwischenzeitlich hätten sich die pandemischen Prognosen deutlich relativiert. Dergleichen unschlüssige Argumentationsweise wird weder der staatspolitischen Verantwortung der Regierung noch der Darlegungslast gerecht, welche den Gesetzgeber trifft, wenn er eine Notlage im Sinne des Artikels 109 Absatz 3 Satz 2 Fall 2 GG feststellen will.

Hinzu kommt, dass mit den Änderungsanträgen der Koalitionsfraktionen die Mehrausgaben für die Coronapandemie von ursprünglich rund 1,4 Mrd. Euro auf jetzt nur noch 300 Mio. Euro gesenkt werden konnten.

Der Hessische Staatsgerichtshof hat diesbezüglich in seinem Urteil vom 27. Oktober 2021 festgestellt, dass mit dem Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers, ob eine Naturkatastrophe oder eine außergewöhnliche Notsituation, die sich der Kontrolle des Staates entzieht, gegeben ist, eine erhöhte Darlegungslast korrespondiert, welche ihn dazu zwingt, sich für die Inanspruchnahme des Ausnahmevorbehalts zu rechtfertigen. Mit dieser verfahrensmäßigen Anforderung wird die Unbestimmtheit der Tatbestandsvoraussetzung „Naturkatastrophe oder außergewöhnliche Notsituation“ ausgeglichen. Dieser verfassungsrechtlich verlangte Ausgleich für die Konkretisierungsbedürftigkeit des materiellen Rechts durch verfahrensrechtliche Anforderungen kann nicht gelingen, wenn die gegebene Begründung, wie im vorliegenden Fall, auf Grund tatsächlicher Anhaltspunkte im Verdacht steht, nicht sachlich, sondern politrhetorisch hergeleitet zu sein. Denn dann ist die Beurteilung und Einschätzung des Gesetzgebers eben nicht in der geforderten Weise nachvollziehbar und vertretbar.

3.) Der angenommene Zusammenhang zwischen Flucht und Rezession ist schwer nachvollziehbar

Der im Notlagebeschlusses (Drs. 18/1973, S. 2) unterstellte Zusammenhang zwischen Fluchtbewegung und Rezession ist weder belegt noch unmittelbar nachvollziehbar. Die Bundesagentur für Arbeit hat festgestellt: „Zum Stichtag 14. November waren in NRW rund 40.000 aus der Ukraine geflüchtete Personen arbeitslos gemeldet. Das waren rund 1.000 Personen weniger als vor einem Monat. Diese Zahl ergibt sich aus der Differenz der im Februar vor dem Tag des russischen Angriffs und der im November in NRW arbeitslos gemeldeten ukrainischen Staatsangehörigen. Insgesamt waren im November bei den Jobcentern in NRW rund 129.000 Menschen mit ukrainischer Staatsangehörigkeit gemeldet. Darunter rund 44.000 für Kinder und Jugendliche.“ Diese Zahlen sind dramatisch, weil hinter jeder Zahl eines Menschen Schicksal steht. Aber Nordrhein-Westfalen ist groß, stark und solidarisch. Gemessen an der Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft des Landes bestehen große Zweifel, ob diese Zahlen eine Notlage im Sinne des Artikels 109 Absatz 3 Satz 2 Fall 2 GG begründen können.

4.) Beeinträchtigung der staatlichen Finanzlage nicht hinreichend dargelegt

Die im Notlagenbeschluss (Drs. 18/1973, S.2) und von der Landesregierung angeführte Negativentwicklung der NRW-Steuereinnahmen ist weiterhin nicht stichhaltig dargelegt. Tatsächlich beliefen sich die Steuereinnahmen des Landes von Januar bis November 2022 auf rund 64.150.435.000 Euro gegenüber rund 59.261.299.000 Euro im Vorjahr. Die Einnahmen lagen also rund 5 Mrd. Euro höher. Die Zahlen für die Novembermonate scheinen zwar ein anderes Bild zu vermitteln: So stehen rund 5.953.327.000 Euro im Jahre 2021 nun, im laufenden Jahr, nur rund 5.232.670.000 Euro gegenüber. Von dem Minderbetrag in Höhe von rund 720.657.000 Euro entfällt der Großteil aber auf Mindereinnahmen aus der Erbschaft- und Schenkungsteuer (nämlich rund 474.928.000 Euro); hinzu kommen erhebliche Mindereinnahmen aus der Grunderwerbsteuer (nämlich rund 136.841.000 Euro). Beide Posten ergeben zusammen rund 611.769.000 Euro. Diese Mindereinnahmen rühren aus Steuern her, die punktuell, nicht laufend veranlagt werden und die aus staatlicher Sicht zufällige Entstehungszeitpunkte haben: Insbesondere wann Menschen erben oder beschenkt werden, ist weitaus weniger aussagekräftig mit Blick auf die wirtschaftliche Lage, als es etwa die Ertragsteuern sind. Und bei den Ertragsteuern ergibt sich für den November ein keineswegs eindeutig negatives Bild. Zwar sind Einnahmen aus Körperschaft- und veranlagter Einkommensteuer zurückgegangen, die Einnahmen aus der Lohnsteuer sind dagegen gestiegen.

Die Argumentation des Notlagenbeschlusses (Drs. 18/1973, S.1 f.) stellt ferner darauf ab, dass Nordrhein-Westfalen im Gegensatz zu anderen Teilen des gesamtdeutschen Bundesgebietes in der aktuellen Krise deutlich stärker betroffen ist. Mit Blick auf den bestehenden Finanzlastausgleich würden mögliche Steuermindereinnahmen nachgelagert jedoch fast vollständig ausgeglichen, sofern diese Steuermindereinnahmen der Argumentation folgend singulär hauptsächlich in Nordrhein-Westfalen anfallen sollten. In diesem Fall stünde der befürchteten schlechten Steuerbasis in Nordrhein-Westfalen für den Finanzlastausgleich die deutlich bessere Steuerbasis im restlichen Bundesgebiet gegenüber.

5.) Unmöglichkeit der vorrangigen Inanspruchnahme bestehender Haushaltsspielräume nicht hinreichend dargelegt

Nach der überzeugenden Rechtsprechung des Hessischen Staatsgerichtshofes – die wegen der allgemeinen Geltung des Art. 109 Abs. 3 Grundgesetz auf Nordrhein-Westfalen übertragbar ist – hat der Gesetzgeber bei der Beurteilung der krisenbedingten erheblichen Beeinträchtigung der staatlichen Finanzlage auch zu prüfen, ob er über Spielräume – wie etwa Ausgabenkürzungen, Einnahmeerhöhungen oder auch die Auflösung gebildeter Rücklagen – verfügt, um eine Neuverschuldung zu vermeiden oder zumindest zu reduzieren. Existieren derartige Spielräume, verpflichtet die „Schuldenbremse“ den Gesetzgeber grundsätzlich, diese Spielräume zu nutzen, bevor auf Grundlage einer der eingangs genannten Varianten von dem Neuverschuldungsverbot abgewichen werden darf. Ausnahmen hiervon sind zwar denkbar. Der Gesetzgeber hat aber dann im Gesetzgebungsverfahren substanziell zu begründen, weshalb er die ihm zur Verfügung stehenden Spielräume nicht oder nicht in vollem Umfang ausnutzt. Je näherliegend solche Möglichkeiten sind, desto substanzieller muss begründet werden, weshalb von ihnen kein Gebrauch gemacht wird. Die schlichte Darstellung, eine Umpriorisierung von bestehenden Ausgaben im Landeshaushalt sei angesichts der weiterhin notwendigen Maßnahmen zur Abmilderung der Folgen des russischen Angriffskriegs, der gesetzlich geforderten Leistungen und der hohen, kurzfristig nicht variierbaren Personalausgaben nicht möglich, verfehlt die verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen. Die mangelnde Darlegung gilt insbesondere auch mit Blick auf einen erwartbaren Milliardenüberschuss aus dem zeitnah endenden Haushaltsjahr 2022. Für den Zeitraum Januar bis November 2022 zeigt sich kurz vor Ende des Haushaltsjahres 2022 bei den bereinigten Gesamteinnahmen und Gesamtausgaben ein positives Finanzierungssaldo von rund 2,34 Mrd. Euro (HFA-Vorlage 18/576 vom 12. Dezember 2022). Kritisch sind hinsichtlich der geforderten vorrangigen Inanspruchnahme bestehender Haushaltsspielräume aber auch die im Einzelplan 20 geplanten Haushaltsvermerke zu sehen, die für die Verwendung von Mitteln aus dem Sondervermögen zwingend die Aufnahme von Krediten voraussetzen, und zwar unabhängig davon, welche Mittel im Kernhaushalt tatsächlich vorhanden sind.

6.) Notwendigkeit der Kreditaufnahme noch im Haushaltsjahr 2022 nicht hinreichend begründet

Die Landesregierung hat nicht nachvollziehbar erklärt, warum gerade noch im laufenden Haushaltsjahr 2022 Kreditaufnahmen nötig sein sollen. Der Bedarf nach einer Neuverschuldung noch im Jahr 2022, zumal angesichts noch vorhandener liquider Mittel aus dem soeben dargelegten positiven Finanzierungssaldo kurz vor Ende des Haushaltsjahres 2022 und einer im Haushaltsjahr 2022 mit über 1,2 Mrd. Euro gefüllten allgemeinen Rücklage, wird nicht plausibel begründet. Der Landesrechnungshof hat zu Recht mit Blick auf den Gesetzesentwurf zum 2. Nachtragshaushalt 2022 gerügt: „Mit der Ergänzung zum Haushalt 2023 wird vorgesehen, die Entnahme aus der allgemeinen Rücklage auf 1,257 Mrd. Euro zu erhöhen, sodass nur noch ein Restbestand von rd. 50.000 Euro besteht. Eine Aussage, ob diese Entnahme (teilweise) auf das Jahr 2022 vorgezogen werden kann, fehlt.“ Bevor die Landesregierung neue Kredite aufnehmen darf, muss sie bestehende Liquidität und Rücklagen verwenden – oder überzeugend erklären, warum sie das nicht tun kann.

7.) Notwendigkeit des gewählten Instruments eines Sondervermögens nicht hinreichend begründet

Die Landesregierung hat bislang nicht hinreichend begründet, warum die Ausfinanzierung der notwendigen Hilfen in der aktuellen Krise das Instrument eines erneuten Sondervermögens erforderlich macht. Es fehlt weiterhin jede stichhaltige Begründung, warum sich Hilfszahlungen und ggf. erforderliche ergänzende Kreditaufnahmen nicht direkt über den Kernhaushalt abbilden lassen sollten. Insbesondere fehlt jede Begründung, warum es aus möglichen Gründen der Überjährigkeit ein solches Sondervermögen für den Zeitraum von Ende Dezember 2022 bis zum Jahresende 2023 bräuchte. Eine nachvollziehbare Begründung wäre hier angesichts der wenigen Resttage und der oben dargelegten vorhandenen Restliquidität im Haushaltsjahr 2022 wohl auch kaum beizubringen.

Mit Blick auf die angeführten substantiellen Einwände droht insbesondere der Notlagebeschlusses (Drs. 18/1973) der Regierungsfraktionen mangels bislang nicht hinreichend dargelegter Notlage verfassungswidrig und damit nichtig zu sein. In diesem Fall bliebe es bei dem Grundsatz gemäß § 18a Absatz 1 Landeshaushaltsordnung und Artikel 109 Absatz 3 Sätze 1 und 5 Grundgesetz. Damit wäre eine Nettoneuverschuldung in der aktuellen Krisenlage vorerst ausgeschlossen. In Folge der Unwirksamkeit des Notlagenbeschlusses und des somit geltenden Verbots der Nettoneuverschuldung wäre ein (Nachtrags-) Haushaltsentwurf, der neue Schulden vorsieht, ebenso verfassungswidrig und nichtig wie ein auf dessen Verabschiedung gerichteter Landtagsbeschluss. Von nur scheinbar erteilten, unwirksamen Kredit- oder anderen Ermächtigungen dürfte die Exekutive keinen Gebrauch machen; täte sie dies doch, handelte sie gemäß § 3 Absatz 1 Haushaltsgrundsätzegesetz und § 3 Absatz 1 Landeshaushaltsordnung ohne Befugnis und verletzte das Budgetrecht des Landtages (Artikel 81, 83 der Landesverfassung).

II. Beschlussfassung

Der Landtag stellt fest, dass

  1. die multiple Krisenlage in Folge des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine Menschen, Betriebe, soziale Einrichtungen und Kommunen in Nordreihen-Westfalen weiterhin vor große Herausforderungen stellt.
  2. das Land Nordrhein-Westfalen in der aktuellen Krise eigene Hilfs- und Entlastungsmaßnahmen auf den Weg bringen muss, um verbleibende Lücken in den umfangreichen Entlastungspaketen des Bundes zu schließen.
  3. diese landeseigenen Hilfs- und Entlastungsmaßnahmen rechtssicher und unter Wahrung der Verfassung auf den Weg gebracht werden müssen.
  4. dass der Landtag trotz politischer und verfassungsrechtlicher Bedenken der Opposition mit Mehrheit den Antrag der Koalitionsfraktionen von CDU und Grünen zur Feststellung einer außergewöhnlichen Notsituation nach § 18 b Landeshaushaltsordnung (LHO) in Verbindung mit Art. 109 Abs. 3 S. 2, 2. Alternative GG (Drs. 18/1973) am 7. Dezember 2022 nicht an die zuständigen Fachausschüsse überwiesen und in direkter Abstimmung unverändert beschlossen hat. Damit konnte der Landtag den Antrag nicht sorgfältig auf seine Verfassungsmäßigkeit prüfen und nicht im Rahmen einer Sachverständigenanhörung überprüfen lassen.
  5. dass der vom Landtag am 7. Dezember 2022 unverändert beschlossene Antrag der Koalitionsfraktionen von CDU und Grünen zur Feststellung einer außergewöhnlichen Notsituation nach § 18 b Landeshaushaltsordnung (LHO) in Verbindung mit Art. 109 Abs. 3 S. 2, 2. Alternative GG unzureichend begründet und daher keine rechtssichere Grundlage ist, um Kredite durch den Nachtragshaushalt 2022 und den Haushalt 2023 aufnehmen zu können.
  6. gegenüber dem von der Landesregierung vorgelegten zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2022 (Drs. 18/1950) in Verbindung mit dem NRW-Krisenbewältigungsgesetz (Drs. 18/1501) und in Verbindung mit dem getroffenen Notlagenbeschluss (Drs. 18/1973) in den jeweils aktuell vorliegenden Fassungen erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken bestehen.

Der Landtag beschließt,

dass die Feststellung einer außergewöhnlichen Notsituation nach § 18 b LHO in Verbindung mit Art. 109 Abs. 3 S.2, 2. Alternative GG vom 7. Dezember 2022 (Drs. 18/1973) aufgehoben wird, da begründete Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des entsprechenden Beschlusses bestehen und somit die in der Folge geplante Auszahlung notwendiger Hilfen für die Menschen in Nordrhein-Westfalen in Frage stehen könnte.

Der Landtag beauftragt die Landesregierung,

um Kredite zur Finanzierung von Hilfsmaßnahmen zur Bekämpfung von Krisenfolgen zu ermöglichen, zu prüfen, ob für das Jahr 2023 eine außergewöhnliche Notsituation gemäß § 18 b Landeshaushaltsordnung in Verbindung mit Art. 109 Abs. 3 S. 2, 2 Alternative GG vorliegt und, falls ja, in der Folge eine entsprechende rechtssichere Begründung vorzulegen. In diesem Zusammenhang soll die Landesregierung die Beratung des Landesrechnungshofs (nach § 88 Abs. 2 Landeshaushaltsordnung) in Anspruch nehmen. Zudem soll die Landesregierung bei dieser Prüfung auch darlegen, wie sich die auf Bundesebene beschlossenen Maßnahmen, insbesondere die Energiepreisbremsen, auf die wirtschaftliche Entwicklung des Landes Nordrhein-Westfalen auswirken.