Marc Lürbke im Interview mit NW - Abschiebungen in Nordrhein-Westfalen

Marc Lürbke, Sprecher für Integration und im Innenausschuss, im Interview mit der Neuen Westfälischen (14.09.2024):

Marc Lürbke

Interview: Ingo Kalischek

Herr Lürbke, der Tatverdächtige von Solingen lebte eine Zeit lang in OWL – und sollte nach Bulgarien abgeschoben werden. Das ist nicht passiert. Wurden hier in den Behörden konkrete Fehler gemacht?

Lürbke: In der Flüchtlingsunter­kunft in Paderborn wurden von der Bezirksregierung nicht alle Möglichkei­ten ausgeschöpft, um den Mann abzu­schieben. Ich fasse mir schon an den Kopf, dass fünf Mitarbeiter der Zentra­len Ausländerbehörde nachts um 2.30 Uhr in die Unterkunft kommen, um den Mann aufzusuchen – und wieder fahren, weil sie ihn nicht auf seinem Zimmer und im Badezimmer angetroffen haben.

Aber zu dieser Zeit sah die Rechtslage doch noch vor, dass sie den Mann gar nicht in weiteren Räumen suchen dür­fen...

Stimmt, nach damaliger Gesetzeslage war das so. Es reichte für die Bewohner somit schon aus, einfach das Zimmer zu tauschen. Und das wussten die Bewoh­ner doch auch. Die haben dann einfach im Bett ihres Zimmernachbarn geschla­fen. Das war bekannt. Ich frage mich aber, warum das von den Einrichtungen akzeptiert wurde. Der mutmaßliche Täter von Solingen war schon am näch­sten Tag wieder beim Mittagessen in der Unterkunft. Warum haben die Verant­wortlichen das der Bezirksregierung nicht gemeldet?

Hätte die Behörde also einen zweiten Anlauf unternehmen müssen?

Ja, es wurde ja gar nicht weiter versucht, den Mann erneut ausfindig zu machen. Man ist einfach davon ausgegangen, dass es keinen weiteren Flug nach Bul­garien geben wird.

Der Mann war zwischenzeitlich schon einmal eine Woche lang nicht in der Unterkunft anzutreffen. Welche Rolle spielt das?

Eine ganz entscheidende. Die Bezirksre­gierung hätte dann nämlich eine soge­nannte Nachtzeitverfügung aussprechen können und vielleicht sogar müssen. Die schreibt vor, dass sich der Mann nachts in seinem eigenen Zimmer in der Unter­kunft aufhalten muss. Ansonsten hätte man ihn zur Fahndung ausschreiben können. Es gab Hinweise darauf, dass das sinnvoll gewesen wäre. Von der Einrichtungsleitung wurde diese zwi­schenzeitliche Abwesenheit aber nicht gemeldet. Bei einem Verstoß gegen eine Nachtzeitverfügung hätte sich zudem das Zeitfenster für eine Rückführung nach Bulgarien von sechs auf 18 Monate vergrößert. Es handelt sich also unterm Strich um zwei Behördenfehler.

Aber warum steht Flüchtlingsministerin Josefine Paul dafür in der Kritik?

Man muss klar sagen: Zu dem Attentat von Solingen ist es nicht aufgrund feh­lender Regeln gekommen, sondern weil das Land die bestehenden Regeln nicht so umgesetzt hat, wie es nötig gewesen wäre. Sonst hätte die Tat verhindert werden können, weil der Mann dann nicht mehr in Deutschland gewesen wäre. Dafür trägt die zuständige Mini­sterin Paul die politische Verantwortung.

Und das heißt konkret?

Die Ministerin spielt eine sehr unglück­liche Rolle. Es lässt tief blicken, dass sich Frau Paul offenbar kurz nach der Tat erst mal beim BAMF über grundle­gende Prozesse im Asylrecht informie­ren lassen musste. Mein Eindruck ist, dass sie ihrem Amt nicht gewachsen ist.

Ist Solingen ein tragischer Einzelfall?

Überhaupt nicht. Es gibt Tausende Fälle, bei denen der Behördenablauf ähnlich ist. Es ist in NRW viel zu leicht, sich einer Rückführung zu entziehen. Dass so etwas passiert, ist leider mehr Regel als Ausnahme. Deswegen schei­tern ja auch zwei von drei Abschiebun­gen in NRW.

Woran liegt das?

Erstens: Es gibt viel zu viele Fälle, weil viel zu viele Menschen im Land sind, die nach geltendem Recht gar nicht hier sein dürften. Zweitens: Die Behörden sind personell massiv unterbesetzt. Auch in den Kommunen wird sehr oft aufgrund fehlenden Personals nicht abgeschoben. Das Land hat die Behör­den schlichtweg nicht in die Lage ver­setzt, die vielen Fälle wirklich abarbei­ten zu können. Ich werfe vor allem Ministerin Paul und den Grünen vor, dass sie die fehlende Schlagkraft der Ausländerbehörden wohlwissend in Kauf genommen haben. Das ist schon nah an einem organisierten Staatsversa­gen. Es mag dem ein oder anderen Grü­nen sicher ins Kalkül gepasst haben, dass Abschiebungen und Rückführun­gen gar nicht so effektiv durchgesetzt werden können.

Aber die Landesregierung hat die Zen­tralen Ausländerbehörden doch gestärkt ...

Ja, aber viel zu spät. Das ist erst gesche­hen, nachdem die Behörden eindring­lich signalisiert haben, dass sie nicht mehr können. Wir haben da die staatli­che Kontrolle vielfach längst aufgege­ben.

NRW hat vor wenigen Tagen reagiert – und das umfassendste Sicherheits- und Migrationspaket der Landesgeschichte geschnürt, wie Ministerpräsident Wüst sagt ...

Ja, aber erst jetzt, nach Solingen. Wir reden seit vielen Jahren über eine Über­forderung der Kommunen bei der Migration. Die ist mit Händen zu grei­fen. Die Bürgermeister haben Hunderte Überlastungsanzeigen an die jeweilige Bezirksregierung gestellt. Das Land hat sich in diesen Fragen nicht bewegt. Wüst hat die Migrationspolitik viel zu lange der grünen Geisterfahrt überlas­sen – und eine Überforderung der Kom­munen sehenden Auges in Kauf genom­men.

Der Flüchtlingsrat in NRW kritisiert, dass wir aktuell einen populistischen Überbietungswettbewerb in der Flücht­lingspolitik erleben. Wie sehen Sie das?

Ich rede mir seit Jahren den Mund fus­selig, indem ich Veränderungen in der Migrations- und Asylpolitik hier in NRW fordere. Die jetzt beschlossenen Maßnahmen sind nicht populistisch. Sie sind schlichtweg dringend erforderlich, um die staatliche Kontrolle zurückzuge­winnen und die Städte und Gemeinden – und somit auch die Menschen zu entla­sten.

 

Medienbericht