Silvia Gosewinkel / Franziska Müller-Rech: „Lesen und Schreiben sind Grundlage für Wissenserwerb – Landesregierung muss Betroffene von Lese-Rechtschreibstörung gezielter fördern“

Das heutige Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Anbringung von Vermerken im Abiturzeugnis bei Nichtbewertung einzelner Leistungen aufgrund von Legasthenie wurde unter Bildungspolitikerinnen und -politikern deutschlandweit erwartet. Auch der Landtag NRW hat sich auf Initiative der Fraktionen von SPD und FDP in den vergangenen Monaten mit dem Thema beschäftigt.

Franziska Müller-Rech

Gemeinsam haben die Fraktionen einen Antrag zur „Chancengleichheit für Kinder mit Lese-Rechtschreibstörung (LRS) und Rechenschwäche“ (Drucksache 18/4357) eingebracht. Die zentrale Forderung der Fraktionen ist, dass die Förderung von Kindern und Jugendlichen auch dann in den Schulen stattfinden muss und nicht außerschulisch organisiert werden darf, wenn Lernschwächen diagnostiziert wurden. Am 06.12.2023 findet die Endabstimmung im Ausschuss für Schule und Bildung des Landtags NRW statt. Hierzu erklären Silvia Gosewinkel, Inklusionsbeauftragte der SPD-Fraktion im Landtag NRW, und Franziska Müller-Rech, schulpolitische Sprecherin der FDP-Fraktion im Landtag NRW:

Silvia Gosewinkel: 

„Lesen, Rechnen und Schreiben sind Basisfähigkeiten, die mit Beginn der Schulzeit erlernt werden. Doch die IGLU-Studie und der IQB-Bildungstrend haben gezeigt: Etwa 30 Prozent der Schüler*innen der 4. Klassen in NRW haben Schwierigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen. Innerhalb eines Jahrgangs haben etwa zehn Prozent der Kinder eine diagnostizierte Lese-Rechtschreibstörung (LRS). Eine Förderung für die Kinder ist wichtig, damit künftig mehr von ihnen gut Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Denn ohne diese Fähigkeiten ist auch kein Erkenntniszuwachs in anderen Fächern möglich oder deutlich schwerer. Inzwischen ist auch hinreichend bekannt, dass jedes Kind anders lernt und sein eigenes Tempo hat. Dem muss unser Schulsystem gerecht werden. Das bedeutet echte Chancengleichheit und Teilhabe an unserer Gesellschaft.

Doch in NRW wird immer noch mit einem Erlass von 1991 gearbeitet, der dem heutigen Wissenstand nicht mehr entspricht. Es ist beispielsweise schwierig, Lese-Rechtschreibstörung von Lese-Rechtschreibschwäche und Legasthenie gezielt voneinander zu trennen. Teilleistungsstörungen werden oft gar nicht erkannt. Aus dem Erlass geht hervor, dass nach dreimonatiger Leistungsabweichung im Lesen und Schreiben, Nachteilsausgleiche bereits ausgesprochen werden können. Aktuell hat es jedoch mit Glück zu tun, ob sich eine Lehrkraft mit LRS, Legasthenie und Rechenschwäche auskennt und entsprechend Nachteilsausgleiche vergibt und weiterverweisende Förderung initiiert – oder eben nicht. Bei der hohen Zahl an Kindern, die nicht richtig lesen und schreiben lernen, muss der Ursache auf den Grund gegangen werden! Bisher hat Schulministerin Feller Maßnahmen zur Förderung der Basisfähigkeiten nicht gezielt sondern nach dem Gießkannen-Prinzip ausgesprochen. Die neu eingeräumten Lese-Zeiten beispielsweise helfen Kindern mit LRS nur bedingt.

Deshalb fordern wir eine Fortbildungsoffensive für Lese-Rechtschreibschwäche und Rechenstörung, damit es an jeder Schule mindestens eine Expertin oder ein Experte gibt. Außerdem muss ein LRS-Erlass im Schulgesetz verankert werden, der dem aktuellen Wissenstand entspricht. Gleiches gilt auch für Dyskalkulie, für die es bisher gar keine Regelung im Schulalltag gibt. LRS und Dyskalkulie müssen daher in der Lehrerausbildung stärker verankert werden.“
 

Franziska Müller-Rech:

„Die Landesregierung hat sich seit 1991 mit eigenen Initiativen zur besseren Unterstützung für Kinder mit LRS, Legasthenie und Rechenschwäche mit Verweis auf das offene Verfahren des Bundesverfassungsgerichts zurückgehalten. Heute ist das Urteil da – und wir erwarten, dass das Warten nun ein Ende hat und Ministerin Feller umgehend tätig wird. Neben Beratungsangeboten für Eltern und Verbesserungen bei der Lehrkräfteaus- und -fortbildung fordern wir vor allem verbindliche Handlungsleitlinien für unsere Schulen. Das Land muss jetzt schnellstmöglich dafür sorgen, dass die heute gerichtlich bestätigten wichtigen Nachteilsausgleiche für Schülerinnen und Schüler mit Lese-Rechtschreibstörung und Rechenschwäche unbürokratisch und schnell gewährt werden.“

Hintergrund: Eine einseitige Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Legasthenie an den Schulen verletzt Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz. Das hat das Bundesverfassungsgericht heute geurteilt. Vorausgegangen ist eine Klage dreier Abiturienten aus Bayern, denen fachärztlich Legasthenie bescheinigt wurde. Aufgrund ihrer Erkrankung haben sie Erleichterungen bei den Abiturprüfungen erhalten – was die Schulverwaltung auf den Abschlusszeugnissen vermerkt hat. Hiergegen haben die Abiturienten geklagt. Das Bundesverfassungsgericht hat nun geurteilt, dass die Verwaltungspraxis diskriminierend sei, weil die Vermerke ausschließlich bei Kindern und Jugendlichen mit Legasthenie angebracht wurde – nicht aber bei anderen Nachteilsausgleichen.

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